So erlebten wir in der Staatsoper zwei Primadonnen, die sich „standesgemäß“ selbst inszenierten, - zum einen Renée Fleming rollenangemessen kapriziös als Capriccio-Gräfin, zum anderen völlig rollenunangemessen mit gekünsteltem Gehabe Angela Gheorghiu als tief dekolletiertes Gretchen mit Ehemann Roberto Alagna als Faust in einer Nicht-Inszenierung (rudimentär wegen Todes des Bühnenbildners und Erkrankung des Regisseurs). Frau Gheorghiu musste natürlich auch beweisen, dass sie bestimmt, wieviel sie zu singen hat, und leider hat sich die Intendanz dem gebeugt. Da legt Bertrand de Billy im Programmheft in seinem Beitrag "Kürzer ist meist nicht besser" u.a. ausführlich dar, warum es eine schlimme Tradition sei, die erste Szene des 4. Aktes - Gretchen am Spinnrad - zu eliminieren, und im Anschluss an den Beitrag ist dann eine Anmerkung abgedruckt: "Die Neuproduktion von Gounods Faust an der Wiener Staatsoper wurde in der vollständigen Form geprobt und einstudiert. Auf Wunsch der Sängerin der Marguerite wird in der Premierenserie das 1. Bild des IV. Aktes jedoch nicht gespielt werden. In den späteren Vorstellung wird dies wieder stattfinden. Die Direktion". Wer diese Premierensängerin ist, ist aufgrund der Besetzungsangaben bei den Fotos im Programmheft auch künftig nachlesbar, - schön, dass sich die Direktion nicht mit einem Einlagezettel begnügt hat!
Eine ungekürzte Fassung und intensives Musiktheater mit Singschauspielern im Totaleinsatz gab es dagegen bei der Aufführung der „Pique Dame“ von Tschaikowsky in einer Inszenierung von Vera Nemirova und unter der spannungsvollen musikalischen Leitung von Seji Ozawa. Insbesondere die Szene zwischen Hermann (Neil Shicoff) und Gräfin (Anja Silja) ging unter die Haut, ein Meisterstück sowohl der Personenregie als auch der Darstellungskunst.
Aber es gibt – und das war für mich persönlich der wichtigere Teil der Reise – in Wien noch ein weiteres bedeutendes Opernhaus: Das Theater an der Wien, - mit einem Spielplan und Besetzungen, die das Herz höher schlagen lassen. Während unseres Aufenthalts liefen die „Barocken Festtage“ mit so ziemlich allem, was in diesem Musik-Genre Rang und Namen hat. Wir konnten leider nur zwei Vorstellungen besuchen, das Konzert von Max Emanuel Cencic und eine Aufführung von Glucks „Orfeo ed Euridice“.
Das Konzert von Max Emanuel Cencic stand unter dem Motto „Farinelli & Friends“ mit Arien von Riccardo Broschi, Nicola Antonio Porpora, Niccolò Jommelli und Georg Friedrich Händel und Zugaben von Händel und Giuseppe Selitto. Eigentlich mag ich solche „Potpourri“-Veranstaltungen mit aus dem Zusammenhang gerissenen Arien nicht besonders, - es gelingt dabei zu selten, einen Spannungsbogen aufzubauen, der die ständigen Unterbrechungen durch Applaus und Abgänge übersteht, und ohne inspirierte Begleitung des Solisten geht es schon gar nicht. Die konnte das eher akademisch korrekt spielende Instrumentalensemble „I virtuosi delle muse“ unter Stefano Molardi leider nicht bieten, so dass die zwischen den Arien-Gruppen gespielten Ouvertüren und ein Concerto grosso von Vivaldi denn auch nicht viel Freude bereiteten. Äußerst schade für Cencic, der stilsicher und schönstimmig sang, bei elegischen Stücken große Bögen spann und Koloraturkaskaden gekonnt ins Publikum schleuderte. Ich kann nur hoffen, bald Gelegenheit zu haben, ihn in einer Bühnenproduktion zu erleben.
Die zweite Zugabe – eine Arie von Giuseppe Selitto - hier als Video von YouTube:
Das große Ereignis wurde „Orfeo ed Euridice“. Es wurde die Wiener Fassung gespielt, bei deren Uraufführung 1762 der Orfeo von einem Altkastraten gesungen wurde. Die Fassung für Parma 1769 hat Gluck dann für einen Soprankastraten umgeschrieben und für Paris, wo Kastraten verpönt waren, 1774 eine teilweise neue Fassung des Werks erstellt und die Partie des Orphée für einen Haute-Contre – einen hohen französischen Tenor – umgearbeitet und um eine neue Bravour-Ariette am Ende des ersten Aktes erweitert. In der Folgezeit war dann bekanntlich die Rolle des Orfeo der italienischen Fassung eine Domäne der Altistinnen bzw. Mezzosoprane, in Deutschland entwickelte sich aber auch eine gewisse Tradition, die Rolle des Orfeo eine Oktave tiefer von einem Bariton singen zu lassen, um die Partie mit einem Mann besetzen zu können; auf die Gesamtaufnahme mit Fischer-Dieskau sei verwiesen, in Hamburg habe ich noch 1980 Tom Krause als Orfeo gehört. Da der Orfeo – anders als später dann eine Reihe männlicher Partien in Rossinis opere serie - keine genuine Hosenrolle für eine Altistin ist, ist die heute mögliche Besetzung mit einem Countertenor m. E. die rollendeckendste Alternative, was die Wiener Aufführung voll bestätigt hat.
Im Theater an der Wien verkörperte Bejun Mehta mit seinem durchaus männlich klingenden Alt und seiner großen Bühnenpräsenz einen herausragenden Orfeo. Trauer und Freude vermochte er ungekünstelt zu vermitteln, maßvoll eingestreute Verzierungen wirkten nicht als aufgesetzte Mätzchen. Stimmlich harmonierte er hervorragend mit dem warmen Sopran von Miah Persson als Euridice und dem zwitschernden Amor von Sunhae Im. Zusammen mit dem Arnold Schoenberg Chor und dem Freiburger Barockorchester unter der musikalischen Leitung von René Jacobs gelang eine lebendige und packende Darbietung, die deutlich machte, was Gluck mit dieser Reformoper vermitteln wollte: Musik für die Seele!
Hier nun – YouTube sei wieder Dank - Bejun Mehta im Theater an der Wien mit „Che farò senza Euridice“:
Aber nicht nur die musikalische Ausführung begeisterte, sondern auch die Inszenierung von Stephen Lawless im Bühnenbild von Benoit Dugardyn, von der dieser Probenmitschnitt einen kleinen Eindruck geben kann. Auf der Bühne steht als Halbrund eine Nachbildung des Musikvereinssaales , durch dessen Türen blauer Himmel zu sehen ist. Es ist der Tag der Hochzeit von Orfeo und Euridice, die Gäste erscheinen, und dann kommt die Nachricht vom Tod Euridices, die im Hochzeitskleid hereingetragen und im Klavier bestattet wird. Das Elysium ist ein Blumenhain, ein Haufen aufgeschichteter Instrumentenkoffer stellt den Hades dar. Nachdem Amor für das Happy-End gesorgt hat, wird die Hochzeitsfeier fortgesetzt, - vielleicht war ja alles auch nur ein Albtraum Orfeos? Solisten und Chor sind in einer durchchoreographierten Personenregie (Bewegungsregie: Lynne Hockney) fast ständig in Bewegung, punktgenau zur Musik und oft auch tänzelnd.
Es war ein bewegender und beglückender Abend.
(Besuchte Vorstellungen vom 12. bis 16. Oktober 2008)
5.11.2008