2. Januar 2013

Maestro Alberto Zedda zum 85. Geburtstag - Sein Buch "Divagazioni rossiniane", vorgestellt von Gianfranco Mariotti

Heute feiert Maestro Alberto Zedda seinen 85. Geburtstag. Ich freue mich, aus diesem Anlass nachstehenden Beitrag veröffentlichen zu dürfen, der demnächst in La Gazzetta erscheinen wird, der Jahreszeitschrift der Deutschen Rossini Gesellschaft, deren Ehrenpräsident Alberto Zedda seit vielen Jahren ist. Mit dieser - anlässlich der Präsentation des Buches von Alberto Zedda Divagazioni rossiniane gehaltenen - Rede zeichnet Gianfranco Mariotti, der Intendant des Rossini Opera Festivals in Pesaro, auf bewegende Weise die verschiedenen Facetten von Persönlichkeit und Schaffen Alberto Zeddas. Auf das Erscheinen des Buches in deutscher Übersetzung können wir uns wirklich sehr freuen. Herzliche Glückwünsche, alles Gute, Gesundheit und viele schöne musikalische Erlebnisse! (esg)
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Foto: Vlaamse Opera 2010/11
 
 Divagazioni rossiniane von Alberto Zedda. Buchpräsentation von Gianfranco Mariotti

Am 9. August 2012 präsentierte Gianfranco Mariotti, Intendant des Rossini Opera Festivals, in der Bibliothek „San Giovanni“ in Pesaro das eben erschienene Buch von Alberto Zedda, Divagazioni rossiniane („Rossinische Exkurse“).Auf unsere Anfrage hat Dr. Mariotti seine Rede für unseren Ehrenpräsidenten in Schriftform gebracht, und wir freuen uns, sie hier in deutscher Übersetzung rechtzeitig zu Alberto Zeddas 85. Geburtstag am 2. Januar 2013 abdrucken zu können. Die italienische Originalfassung ist unter www.rossinigesellschaft.de verfügbar. Außerdem bereitet die Deutsche Rossini Gesellschaft eine deutsche Übersetzung des Buches vor, die voraussichtlich Mitte 2013 als Band 8 der „Schriftenreihe“ bei Ricordi München erscheinen wird.

Wie wir alle wissen, gehört jedes Werk der menschlichen Kreativität (ein Buch, ein Gedicht, ein Musikstück, ein Bild, eine Skulptur), wenn es einmal den Kopf seines Schöpfers verlassen hat, dem Publikum: den Lesern, den Zuhörern, den Betrachtern. Ein Roman beispielsweise lebt, wenn die Nabelschnur zu seinem Schöpfer einmal durchtrennt ist, sein eigenes Leben und folgt einem eigenständigen Weg. Sie werden deshalb meine Verlegenheit verstehen, als mir die Aufgabe anvertraut wurde, ein Buch vorzustellen, das den Autor selbst verkörpert – und zudem noch einen Menschen, den ich gut kenne und an den mich eine brüderliche Freundschaft bindet und mit dem ich seit über dreißig Jahren leidenschaftlich ein rossinisches Abenteuer teile. Es fällt mir also schwer, die hier nötige Objektivität und Ausgewogenheit zu finden. Aber ich will es versuchen.

Das erste Merkmal, das an diesem Buch auffällt, ist seine Unausgeglichenheit. Zwar hat es zu Beginn ein Inhaltsverzeichnis, das genau das Gegenteil suggeriert, mit einer Reihe von schön geordneten Abschnitten. Es gibt einen autobiografischen Teil, einen Teil über die Bekanntschaft mit Rossini, einen zu den Fragen der rossinischen Vokalität, zu jenen der Aufführungspraxis, zu musikwissenschaftlichen Aspekten, Ratschläge für die Jungen, Betrachtungen in Form von Aufsätzen zu vierzehn Rossini-Opern. Aber es genügt eine erste Durchsicht, um sich bewusst zu werden, dass keiner dieser Abschnitte wirklich eigenständig ist, vielmehr berührt einer den anderen, und sie verflechten sich ständig. Man muss hinzufügen, dass sich der Autor des Problems vollkommen bewusst ist, wenn er gleich zu Beginn relativiert und daran erinnert, dass es sich eben um „Exkurse“ handelt, also um Notizen, um Gedanken und Ideen, die im Laufe der Zeit, in verschiedener Weise und zu unterschiedlichen Gelegenheiten entstanden sind, und wenn er anfügt, man solle beachten, dass es deshalb möglich sei, auf Wiederholungen, Ungenauigkeiten und sogar Widersprüche zu stoßen. Soweit, so klar? Nein. So wie Polonius angesichts von Hamlets Eigenartigkeiten ausruft: „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode“, so könnte ich sagen, dass der Mangel an Systematik in diesem Buch nicht nur von seiner Entstehungsgeschichte, vom Zufall oder von den Umständen abhängt, sondern von etwas Tiefgreifenderem und Grundsätzlicherem, das direkt dem Autor angehört. Kurz und gut: Es hat Methode. Tatsächlich erscheint Alberto Zedda in diesem Buch genau wie im Leben als ein Mensch mit drei Dimensionen: jener des Dirigenten, jener des Musikologen und jener des Lehrers. Grundsätzlich ist es so, dass er immer und jederzeit diese drei Dinge gleichzeitig ist. Es wäre ungerecht, aber auch unmöglich, Zedda nur unter einem dieser drei Aspekte zu betrachten. Das Resultat würde immer geringer als die Wirklichkeit ausfallen, denn es ist dauernd diese Dreieinigkeit, die seine Charakteristik und seine Stärke bildet. Alberto ist ein gebildeter Dirigent, mit einem reichen humanistischen Hintergrund, aber auch fähig eine Partitur mit der Kompetenz des Spezialisten zu handhaben. Im Weiteren ist er kein pedantischer Musikologe, sondern einer, der in der Lage ist, die Fragen des musikalischen Textes mit der Erfahrung und dem gesunden Menschenverstand des praktizierenden Musikers anzugehen. Er ist schließlich ein großherziger Lehrer mit der Bereitschaft, den Jungen vor allem auf dem Gebiet des Belcanto die eigenen umfassenden Erfahrungen aus diversen Gebieten weiterzugeben. Die Unentwirrbarkeit dieser drei Dimensionen widerspiegelt sich in diesem Buch, und sie ist der wahre Grund für dessen Unausgeglichenheit. Wenn man einen schwülstigen Vergleich machen wollte, könnte man sagen, dass Zedda einem Künstler der Renaissance gleicht, der sich für alles interessiert und in unterschiedlichen Disziplinen brilliert. Wenn wir uns hingegen auf einen volkstümlicheren und banaleren Vergleich beschränken wollen, so könnten wir ihn mit einem Skifahrer vergleichen, der immer in der Kombination gewinnt…

Alberto Zedda bezeichnet sich gerne als „Dilettanten“, der es aber verstanden habe, Profi-Ergebnisse zu erzielen. Das ist offensichtlich eine Koketterie, aber sie enthält wie alle Paradoxe eine gewisse Wahrheit. Und in der Tat, wenn wir sehen, was der Autor über seine Erfahrungen erzählt, so erkennen wir, dass wir nicht weit von der Wahrheit entfernt sind. Doch hören wir seine eigenen Worte:
Mein kultureller Werdegang verlief eher ungewöhnlich. Statt in den Hörsälen der Universität und im Konservatorium, erfolgte er im Loggione der Scala und im Piccolo Teatro, in der Casa della Cultura und in der Società Umanitaria – also an Orten, wo damals begeisternde Diskussionen stattfanden, die in der Regel bei Jazz-Sessions im Santa Tecla, intellektuellen Mußestunden im„Giamaica“ und kräftigen Umtrünken im Cantinone endeten. […]

Ich habe mit allem experimentiert, jede Erfahrung mit leidenschaftlichem Eigensinn aufgesaugt: die religiöse Mystik, die erotische Exaltation, die Leidenschaft für das Schachspiel, die Schauspielkunst, die proletarische Arbeit, die rebellische Illegalität, Politik und Gewerkschaft, die kulturelle Debatte, die Suche nach Neuem, die Entdeckung des Alten – das Ganze bereichert durch eine unbändige Lesewut, die vor keinem Thema haltmacht. Ich bin also ein ‚Dilettant‘(im ursprünglichen Sinn des Wortes, d.h. jemand, der sich an allen Erfahrungen erfreut), der hart dafür gearbeitet hat, um in seinem Wirken eine tadellose Professionalität zu erreichen.
Objektiv gesehen ist keine seiner Laufbahnen wirklich linear und keine folgt einem kanonischen Studium und normalen Erfahrungen. Die Leidenschaft, die unerwarteten Ereignisse, manchmal der Zufall, das sich nicht Zufriedengeben mit einer Sache, das sich Zuwenden zu einer neuen Sache, ohne eine vorherige zu Ende zu führen – die plötzlichen Impulse beherrschen ihn, aber nur scheinbar: Die Resultate – auf allen Gebieten – erreichen immer wieder die Vollkommenheit, obwohl die Anhäufung vieler gleichzeitiger Dinge oft zu Überlappungen und Durcheinander führt. Wahrscheinlich ist es eine starke Egozentrik, die dieser scheinbaren Unordnung einen Sinn gibt. Die Ursache von all dem ist eine bemerkenswerte Entfaltung von Energie, die der eigenen Leidenschaft, dem eigenen Verlangen, den eigenen Trieben dient.

Aber betrachten wir ein Beispiel, das mir besonders typisch für all das Gesagte erscheint und das ich dem Buch entnehme. Bekanntlich hat Rossini 1867, ein Jahr vor seinem Tod, die Petite Messe solennelle für großes Orchester instrumentiert, nachdem er sie vier Jahre zuvor für eine Kammerbesetzung komponiert hatte. Seltsamerweise wird aber das Prélude Réligieux, das in der ursprünglichen Version dem Klavier solo anvertraut war, nicht orchestriert, sondern der Orgel übertragen, und zwar einer großen Domorgel, eine Voraussetzung, die in der Wirklichkeit oft nur schwer zu realisieren ist. An diesem Punkt (S. 115) bemerkt Zedda:
Es kommt so zu einem radikalen, ja peinlichen Klangkontrast: Während der acht Minuten des Prélude Réligieux und der vier des darauf folgenden „Sanctus” für Chor und Soli a cappella schweigt das Orchester; seine Instrumente ertönen dann nur noch einmal in den letzten beiden Nummern […]. Das daraus resultierende klangliche Ungleichgewicht ist derart gewaltig, dass das gesamte Werk dadurch aus der Balance gerät und in Hörer und Interpret ein vages Gefühl der Unvollendetheit entsteht […].

Einer der Gründe, die Rossini dazu bewogen haben könnten, das Prélude Réligieux gar nicht zu instrumentieren bzw. seine Orchestration auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, bestand vielleicht in einem technischen Problem: Die Exposition des Prélude beruht auf einem fugierten Thema, das nach klassischer Tradition eigentlich von einem einzigen Instrument ausgeführt werden sollte. Abgesehen jedoch von wenigen Streichinstrumenten wäre aufgrund seines ungewöhnlich großen Tonumfangs keines der übrigen von Rossini zur Orchestrierung seiner Werke verwendeten Instrumente in der Lage gewesen, das gesamte Thema durchzuführen. Wäre nicht sein Tod dazwischengekommen, dann hätte der Maestro wahrscheinlich auf ein entsprechend umfunktioniertes Bassetthorn (oder eine Bassettklarinette) zurückgegriffen. Heute lässt sich die Passage optimal mit einer Bassklarinette (oder einem Tenorsaxophon) bewältigen, die diesem sublimen Stück zudem die richtige Ausdrucksfarbe verleiht. Deshalb habe ich mir nach Jahren des Zögerns in aller Bescheidenheit erlaubt, es anstelle von Rossini zu instrumentieren, der mir diesen mutigen Liebesbeweis aber bestimmt verzeihen wird.
Es ist also Zedda selbst, der kühn, aber mit guten Argumenten das himmlische Prélude, das ursprünglich der Orgel überlassen wurde, für ein großes Sinfonieorchester instrumentiert. Ich füge an, dass die Petite Messe für Orchester in dieser Fassung auch einmal in Pesaro mit einem faszinierenden und überzeugenden Resultat aufgeführt wurde. Nun frage ich mich, und ich frage Sie: Welcher Zedda agiert in dieser Episode? Der Dirigent? Der Musiker? Der Musikologe? Der Korrepetitor? All dies zusammen?

Wenn wir dieses Buch als authentisches Zeugnis, als Dokument eines Lebens betrachten (und das ist es), dann müssen wir daraus schließen, dass all diesem ein widersprüchlicher Kern, ein Oxymoron zugrunde liegt, eine Mischung aus Großzügigkeit und Egoismus, zwei Kategorien, die natürlich nicht materiell zu verstehen sind, sondern vielmehr ideell oder metaphysisch. Was den ersten Punkt betrifft: Alberto lebte und lebt ein großherziges Dasein, das von der Bereitschaft gekennzeichnet ist, den anderen viel von sich zu geben, namentlich den jungen Künstlern, wie dieses Buch selbst bezeugt. Um diese Charakteristik zu verstehen, muss man ihn bei der Arbeit in den Kursen der Accademia Rossiniana erlebt haben, muss man ihn gehört haben, wie er mit seiner sintflutartigen und überbordenden Eloquenz die Schüler überrollt, um sie zu bezaubern, zu überraschen, zu informieren, zu korrigieren, zu beschimpfen, zu beschwichtigen, zu erhellen, zu überzeugen… Ein echtes Gewitter, vermischt mit wertvollen technischen Ratschlägen, geschmackvollen Bemerkungen, einschlägigen Hinweisen, das die Schüler schließlich gereinigt und verändert und jedenfalls mit einer bleibenden Dankbarkeit dem Maestro gegenüber für das unvergessliche Bildungserlebnis von Pesaro zurücklässt. Hören Sie dazu folgende Passage aus dem Buch:
Es wird nicht genügend beachtet, dass es einer umfassenden kulturellen Aus- und Fortbildung bedarf, die sichüber die rein auf die Musik ausgerichteten Gebiete hinaus erstreckt. Ohne eine entsprechende Neugier kann man aber nicht den ständigen Wandel der Interpretationsmodelle wahrnehmen, die jede neue Generation wieder in Frage stellt. Kritiker prüfen täglich die in den Opernhäusern und Konzertsälen bestehenden künstlerischen Tendenzen und analysieren sie unter der Lupe der Aktualität; Musikwissenschaftler untersuchen die Entdeckungen grundlos vergessener Nachlässe und fördern deren Neubelebung, indem sie Hinweise zu einer passenden Aufführungspraxis erteilen; Gesangsexperten verfeinern die Techniken, um den Anforderungen gerecht zu werden, die die wiederentdeckten Werke stellen; Komponisten riskieren es, bei der Suche nach neuen musikalischen Ausdrucksmitteln auf Unverständnis zu stoßen; Organisatoren von Festivals und Konzerten suchen nach Kommunikationsformen, die den Zuspruch eines jungen Publikums finden. Der Opernsänger darf hier nicht am Rande des Geschehens verharren, als ginge ihn das Ganze nichts an: Er weiß nicht, welch großen Nutzen er aus all diesen Erkundungen ziehen kann, wie viele Anregungen, wie viele Anstöße zur Bewältigung seiner jeweiligen Probleme. Denn auch das Singen ist eine geistige Aktivität und kommt von daher nicht ohne gründliches Nachdenken aus.Es wird für ihn eine angenehme Überraschung sein, festzustellen, wie viele Schwierigkeiten sich durch Intelligenz und Bildung aus dem Weg räumen lassen.
Was den Egoismus Zeddas betrifft, so handelt es sich – natürlich –um eine Haltung, die auf Ichbezogenheit und einer gehörigen Portion Selbstwertgefühl basiert, aber vor allem auf der Vorherrschaft und der Unbezwingbarkeit des Verlangens, verbunden mit einer geringen Bereitwilligkeit zum Verzicht. Dieses alles Verlangen und auf nichts Verzichten widerspricht natürlich jedes Mal der wirklich zur Verfügung stehenden Zeit und ist Ursache für Kollisionen, Überlappungen und Nichteinhaltungen. Das Merkwürdige dabei ist, dass dies nicht nur bei den großen Unternehmungen geschieht, sondern auch in den kleinen und alltäglichen Dingen, ob bei einem Museumsbesuch, einem Ausflug zu einem Aussichtspunkt oder selbst bei einem mehrgängigen Menü. Aber ich möchte ein anderes Beispiel anführen, das indirekt, aber vielsagend eine typische Form von Albertos metaphysischem Egoismus aufzeigt, nämlich die unbezähmbare Neigung zur Abschweifung. Ich habe bereits seine überbordende und unaufhaltsame Eloquenz erwähnt. Wenn er also spricht, bildet sich in seinem Gehirn manchmal eine Parenthese, die auf ein kleines Detail anspielt. Jeder andere würde zügig fortfahren, um den Faden nicht zu verlieren. Er nicht. Er geht auf die Klammer ein und fährt dann zuversichtlich fort, aber nicht immer findet er die Hauptlinie wieder, ja oftmals kommt er davon ab und verliert sich. Das ist, wie mir scheint, ein Beispiel seiner mangelnden Bereitschaft, selbst auf kleinste Details zu verzichten.

Der letzte Teil ist den Betrachtungen des Bildungsmenschen (natürlich immer in seiner Dreieinigkeit) rund um vierzehn rossinische Werke gewidmet. Es handelt sich um eine wahre Fundgrube von anregenden Bemerkungen, die ich hier nicht einmal zusammenzufassen versuche. Aber eine möchte ich zitieren, bezüglich Tancredi, weil sie selbst mich, der ich mit Alberto solche Themen unzählige Male diskutiert habe, überrascht hat. Bekanntlich hat Tancredi zwei Finali: das ursprüngliche, glückliche Ende, das Rossini 1813 für Venedig komponiert hat, und das tragische, das er im gleichen Jahr für die Wiederaufnahme in Ferrara geschrieben hat, wohl auf Anregung des Grafen Luigi Lechi, bei dem er zu Gast war. Es ist auch bekannt, dass der Oper ein Libretto zugrunde liegt, das von Absurditäten gekennzeichnet ist, wo die verliebten Hauptpersonen, Tancredi und Amenaide, Opfer eines tragischen Missverständnisses sind, das sie bis zum Schluss nie klären, obwohl sie viele Gelegenheiten dazu hätten. Daraus entsteht ein beklemmendes Klima, ein Albtraum, ähnlich den Träumen, die jeder von uns manchmal hat, in dem eine absurde Situation auf die andere folgt, ohne dass man je zu einer Auflösung kommt. Die Geschichte sagt, dass das tragische Finale wegen seiner ungewohnten, nüchternen Schmucklosigkeit das Publikum befremdet habe, zeigte es doch statt des üblichen schmerzlosen Schlusses eine tiefschürfende Sterbeszene mit wenigen essentiellen Noten im diminuendo, ein wahrhaftiges Aushauchen der Töne in der Totenstille (Fedele D’Amico schrieb seinerzeit wunderschön in unserem Programmheft:„man glaubt die Entstehung der Stille mittels der Musik selbst hören zu können“). Die Geschichte des Autographs erzählt uns Zedda in seinem Buch. Rossini, der von der Ablehnung des Publikums Kenntnis genommen hatte, griff wieder auf das glückliche Ende zurück und ließ das andere fallen; seine Spuren verlieren sich, und es galt für anderthalb Jahrhunderte als verloren. Die Nachfahren von Luigi Lechi haben es in den 1970er-Jahren in dessen Nachlass gefunden und Zedda zur Kenntnis gebracht, der es großzügig Philip Gossett überließ, dem Herausgeber der kritischen Edition von Tancredi. Dies erlaubte dem ROF, die Oper 1982 erstmals mit dem unveröffentlichten tragischen Ende aufzuführen, und zwar mittels eines Regieeinfalls sogar mit beiden Finali hintereinander (und man erlaube mir hier, die Verantwortung für die ursprüngliche Idee dieser eigenwilligen Lösung zu übernehmen). Es steht außer Zweifel, dass für unsere Kultur und unseren heutigen Geschmack das tragische Ende in ästhetischer Hinsicht als schöner, moderner, eindrucksvoller und bewegender betrachtet wird, und es ist auch dasjenige, das heute fast immer vorgezogen wird. Es bleibt die Verwunderung über eine so drastische und konsequente Lösung Rossinis. Zedda spricht in seinem Buch an zwei Stellen davon, die sich teilweise widersprechen. Die erste findet sich auf Seite 18, wo er sagt, dass dieses Stück
[…] mit beeindruckender Wahrhaftigkeit die Tragödie des Sterbens erfasst. Der Klang, die Musik, die Stimme erlöschen ganz allmählich, bis sie schließlich die kosmische Leere erreichen, das Nichts. Rossini muss dieses bittere Bekenntnis eines agnostischen Pessimismus selbst so erschüttert haben, dass er es bei späteren Reprisen nicht mehr in die Oper einfügen wollte. Gegen seine Gewohnheit ließ er das autographe Manuskript in den Händen seines Inspirators, der es dann, vielleicht dem Willen seines Gebers entsprechend, vor aller Welt verborgen hielt.
Aber später, auf Seite 172, stellt er eine anderslautende und eindringlichere Überlegung an, wenn er bemerkt, dass Rossini bei der Erfüllung von Luigi Lechis Wunsch…
[…] zwar eine intellektuell tadellose Operation ausführt, mit dieser sinnvollen Geste aber der versteckten Traumlogik widerspricht und ihren morbiden Zauber stört. […] Mit unfehlbarem theatralischem Gespür erkennt er, dass dieses konkrete Bild, dieser logische Schluss mit der Mysteriosität kollidiert, die das Handeln seiner Verliebten umgibt. Im Nachhinein verwirft er so seinen Eingriff und kehrt zu dem glücklichen Finale zurück, das – gerade wegen der evidenten Absurdität des Handlungsgeschehens – wie das beruhigende Erwachen aus einem Albtraum klingt.
Es stimmt, und ich gestehe, dass ich das nie in Erwägung gezogen habe. Das tragische Finale ist sicher schöner, aber es löst nicht, sondern verlängert vielmehr die beklemmende Widersinnigkeit, die das Merkmal dieser Oper ist. Das glückliche Ende dagegen, obwohl musikalisch weniger wertvoll, wirkt tatsächlich wie das „beruhigende Erwachen aus einem Albtraum“ und ist deshalb paradoxerweise in theatralischer Hinsicht viel schlüssiger als das andere. Nun müssen Sie wissen, dass dieses Buch voll von solchen erhellenden Betrachtungen ist, weshalb ich es Ihnen zur Lektüre empfehle.

Ich komme zum Schluss. Ich habe zuvor von Zeddas Energie gesprochen. Da gibt es auch eine ganz spezielle, diejenige, die die Spanier mit duende bezeichnen und die nur wenige besitzen; etwas, das niemand definieren kann, aber das alle kennen, nämlich eine verhüllte Energie, ein Charisma, eine Tiefe, ein positiver Dämon oder – um es mit Garcia Lorca zu sagen – „eine geheimnisvolle Macht, die jeder fühlt, aber kein Philosoph erklärt“ (Theorie und Spiel des Dämons, 1933). Also, wenn Sie es wissen wollen: Alberto ist voll von duende. Ich beschränke mich auf ein Beispiel. Vor einigen Jahren sollten wir beim Rossini Opera Festival La scala di seta zur Aufführung bringen, als der verpflichtete Dirigent plötzlich eine Krise hatte und uns nach der Generalprobe im Stich ließ. Wir hatten keine andere Wahl als auf die beiden Dirigenten, die vor Ort waren und zum Glück die Partitur kannten, zuzugehen und sie zu bitten, das Dirigentenpult abwechselnd zu übernehmen. Einer der beiden war Alberto Zedda. Ich füge hinzu, dass beide Dirigenten keine Gelegenheit hatten, mit dem Orchester zu proben. Als es soweit war, zeigte sich, dass hinsichtlich der Klarheit und Präzision der Zeichengebung der andere Dirigent besser zu dirigieren schien, aber dennoch fiel das Ergebnis anders aus: das Orchester spielte besser unter Alberto. Es hatte eine andere Brillanz, einen anderen Elan, ja selbst eine andere Klangfarbe. Eine Frage von Kommunikationsfähigkeit und Erfahrung, sicherlich; aber ich glaube vor allem eine Frage von duende!

Übersetzung von Reto Müller. Die Übersetzung der Buchzitate stammt von Marcus Köhler

© Deutsche Rossini Gesellschaft e.V.
Auszug aus «La Gazzetta», Zeitschrift der Deutschen Rossini Gesellschaft, XII, 2012

Alberto Zedda, Divagazioni rossiniane, Mailand, Ricordi 2012, 196 Seiten, kartoniert, ISBN 978-88-7592-921-3, € 18,00.
Deutsche Übersetzung von Marcus Köhler
in Vorbereitung: München, Ricordi 2013 (=Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft, 8).

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Und hier meine ganz persönlichen Glückwünsche,
verbunden mit einem Auszug aus meiner Aufführungs-Datenbank:

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Eine kleine Geschichte am Rande:
In den frühen 1980er-Jahren dirigierte Alberto Zedda des Öfteren an der Hamburgischen Staatsoper. Bei anderen Dirigenten gab es auch damals die - leider auch heute noch - üblichen Striche beim Barbiere di Siviglia, - nicht aber, wenn Alberto Zedda am Pult stand! In einer dieser Vorstellungen wähnte sich der Sänger des Conte Almaviva bei der Cabaletta des Duetts Figaro/Almaviva "All' idea di quel metallo" schon auf der Zielgeraden und wirkte leicht verwirrt, als es noch weiterging, - er fand aber schnell wieder den Anschluss...
 
 
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