La donna del lago boomt derzeit, - so jedenfalls der Eindruck, wenn man sich vergegenwärtigt, wie selten die opere serie von Rossini ansonsten auf den Spielplänen stehen. Genf - Mailand - Paris - Wien (TadW) - London - Santa Fe, - alles szenische Produktionen seit 2010. Und wenn auch die Inszenierungen in der Regel heftig umstritten sind, so feiert dieses Meisterwerk doch musikalisch wahre Triumphe, lassen sich doch jetzt alle vier Hauptrollen angemessen bis sensationell besetzen.
Die Titelpartie der Donna del lago reizte auch bereits in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Sängerinnen, wie ein Blick in die Liste der Gesamtaufnahmen und Produktionen bei esdf-opera zeigt. Bei den Tenören war - abgesehen natürlich von Rockwell Blake und Chris Merritt - die Lage eher problematischer.
In der Titelpartie unangefochtene Nummer Eins - eben die prima donna im wahrsten Sinne des Wortes - ist derzeit Joyce DiDonato. Auch in Santa Fe feierte sie wahre Triumphe; neben ihr sangen Lawrence Brownlee (Uberto), Marianna Pizzolato (Malcolm) und René Barbera (Rodrigo). Charles Jernigan berichtet in seinem Opera Journal im dortigen Post "Santa Fe Sojourn" nicht nur über die dortige Produktion, sondern befasst sich auch ausführlich und grundsätzlich mit diesem Meisterwerk Rossinis und zieht Vergleiche zu der ebenfalls besuchten Produktion in London. Die folgende Übersetzung ins Deutsche bringt eine gekürzte Fassung des sehr lesenswerten amerikanischen Originaltextes. Da im nächsten Mitteilungsblatt der Deutschen Rossini Gesellschaft aus Platzgründen nur eine wiederum gekürzte Fassung der deutschen Übersetzung erscheinen kann, freue ich mich sehr, in meinem Blog die Langfassung der Übersetzung veröffentlichen zu können.
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A Scene from 'The Lady of the Lake' (1849) by Alexander Johnston |
I)
Ein paar Anmerkungen zur Oper
[…]
Es ist eine noch unbeantwortete Frage, wer Walter Scotts poetische
Erzählung The
Lady of the Lake
(ca. 5000 Verse lang) als Stoff für die neue Oper der Herbstsaison
1819 in Neapel ins Gespräch brachte. Andrea Leone Tottola, der
Librettist der Oper, sagte im Vorwort zu seinem Werk, der Impresario
Barbaja habe die Idee dazu gehabt und sich an ihn, seinerzeit
Hausdichter am Teatro San Carlo, mit der Bitte gewandt, ein Libretto
zu verfassen. Zu ungefähr derselben Zeit könnte aber Rossini in Rom
eine französische Übersetzung von Scotts Erzählung, die noch nicht
ins Italienische übersetzt worden war, in die Hände gefallen sein.
Vielleicht kamen also Komponist und Impresario gleichzeitig auf die
Idee (*).
Wie
auch immer es gewesen sein mag – es war eine bedeutsame
Entscheidung; denn hierdurch wurden Walter Scotts Werke in die
italienische Oper eingeführt, und – noch wichtiger – das neue
Opus wurde die erste romantische Oper, eine Art Brücke zwischen dem
Typ von Opern, die im 18. Jahrhundert populär waren, und dem Genre,
das im 19. Jahrhundert dominieren sollte. Was Scotts Einfluss auf die
italienische Oper betrifft, so ist er schwerlich zu unterschätzen,
gibt es doch im Laufe der folgenden rund 80 Jahre Dutzende Opern nach
Walter Scotts Romanen (am berühmtesten Lucia
di Lammermoor).
[…] In jener Zeit war in Italien der Ossian
Maßstab für alles Romantische, besonders wenn es um Schottland
ging. Es finden sich in Tottolas Versen auch Abschnitte mit der
Ausmalung von Naturszenen, die typisch romantisch sind und von Scott
stammen. Romantik war 1819 in Italien etwas „Neues“, und es
scheint mir völlig plausibel, dass Barbaja seinem Publikum etwas
„Neues“ bieten wollte, das Interesse wecken und Kommentare
auslösen würde – und Rossini und Tottola kamen seiner Anregung
gerne nach.
Tottola
bekommt schon seit über 200 Jahren schlechte Kritiken als
„Schreiberling“, und es zirkulierte zu seiner Zeit ein kleiner
populärer Knittelvers, in dem sich sein Name auf “nottola“ (=
„Nachtsegler“) reimte. Es mag sein, dass er nicht der Schöpfer
der brillantesten Dramen in der Geschichte der Oper war, aber er war
kein „Schreiberling“, und er lieferte Rossini Verse und eine
Story, die manchmal „bardisch“ sind (im Sinne von folkloristisch
wie Ossians Verse) und Scotts Erzählung sehr eng folgen, auch wenn
es einige Änderungen gibt, z.B. bei der Charakterisierung von Elenas
Vater Douglas und dem Schicksal des Clanchefs Rodrigo, der bei Scott
– anders als in der Oper – bis zum Ende wenn auch schwer
verwundet überlebt. […]
Rossinis
Musik ist oft ganz innovativ und soll das bardische, volkstümliche
Element der Geschichte, die er in Töne gesetzt hat, suggerieren oder
die raue Welt der gälischen Krieger oder die Naturszenerie von Wald,
Vögeln, Bächen und Seen, die Scott beschreibt, eine Art von
Szenenausmalung also, die in der romantischen Musik sehr verbreitet
ist, vielleicht angestoßen durch Beethovens Pastorale.
[…] Aber obwohl Rossinis Musik häufig einen Ausflug in die
Romantik darstellt, ist sie ansonsten in Form und Empfindung sehr
nahe am 18. Jahrhundert: das weiter entwickelte Erbe von
Opernkomponisten wie Händel mit formellen Arien wie z.B.
Selbstgesprächen, die exemplarische Emotionen freisetzen, welche die
zahlreichen die Handlung vorantreibenden Rezitative unterstreichen.
Der größte Teil des 2. Aktes entfaltet sich auf diese Weise, wie
eine normale Opera seria. […]
Scotts
Erzählung in Gedichtform ist vieles in einem: eine einfache,
ziemlich unkomplizierte Mischung aus Abenteuer- und Liebesgeschichte,
erzählt in einfachen Paarreimen mit manchmal ausschweifenden
Beschreibungen; ein Kompendium schottischer Folklore; Reisewerbung
für Schottlands unzählige Schönheiten; eine politische Abhandlung
über die Tugenden einer Verbindung zwischen einem englischen
(sächsischen) Monarchen und dem schottischen Volk. Mit vielen
eingeschobenen Liedern und mit Barden, die diese, begleitet von der
keltischen Harfe, singen, ist sie auch sehr „musikalisch“.
Tottolas
Libretto ist eine überraschend sinngetreue Wiedergabe von Scotts
Geschichte, und seine Verdichtungen sind sinnvoll. Nur ein Beispiel:
Die vier oder fünf Barden, die in der Erzählung als Sänger
auftreten, werden vereinigt zu einem Chor der Barden. Er musste auch
der Notwendigkeit nachkommen, allen Protagonisten eine hinlängliche
Anzahl von Arien zu geben, damit diese ihre Kunstfertigkeit zur
Geltung bringen konnten. Tottola, dessen Geburtsdatum nicht bekannt
ist, starb 1831, doch in vielerlei Hinsicht ist er noch ein Mann des
18. Jahrhunderts. Auch Rossini stand mit einem Fuß im vorhergehenden
Jahrhundert, und manchmal ist seine Musik das, was einige
italienische Kritiker gerne „reine Musik“ nennen, d.h. losgelöst
vom Text oder Kontext einer Geschichte. Derartige Musik gibt es in La
donna del lago,
aber auch solche, die eine Szene im romantischen Sinne ausmalt.
Diesen Stil entwickelte er noch zehn Jahre weiter bis zu seiner
letzten Oper Guillaume
Tell.
Dieses Werk ist ein Monument der Romantik, das wieder in einer wilden
alpinen Landschaft angesiedelt ist, doch ich für meinen Teil bin der
Meinung, dass der Pesarese am glücklichsten mit der „reinen Musik“
im Stil des verlängerten 18. Jahrhunderts war, der Musik zu Il
barbiere di Siviglia,
La
Cenerentola
oder L’italiana
in Algeri,
die die Welt so liebt.
II)
Die Aufführung in Santa Fe
Ich
habe diese Produktion der Santa Fe Opera zweimal – am 17. Juli und
1. August – erlebt. Bei der zweiten Vorstellung hatte es
nachmittags ein heftiges Gewitter gegeben, und zu dem Zeitpunkt, als
die Aufführung begann, hingen in der Ferne Nebelschleier in den
Bergen, die durch die Rückseite der Freilichtbühne sichtbar waren.
Für einen Augenblick hätte diese Szenerie Schottland und nicht New
Mexico sein können, und es war ein magischer Moment, als Joyce
DiDonato von der Rückseite der Bühne auftrat. Doch insgesamt schoss
diese Inszenierung am Ziel vorbei.
In
einer Anmerkung des Regisseurs im Programmheft lesen wir, dass Ms.
DiDonato (Elena) und Paul Curran (Regisseur) übereinstimmend der
Meinung waren, dass „eine Aktualisierung des Schauplatzes für
diese Inszenierung keine Option war“, und doch wollte Curran dabei
„dramaturgische Klischees und Verfälschungen abbauen“: So gab es
„nicht überall Schottenmuster, keine malerische, nebelverhangene
Moorlandschaft, kein kunstvolles gotisches Gemäuer“. Und – so
könnten wir hinzufügen – keinen See. Doch leider ist das Ergebnis
ein einmalig hässliches braunes Einheitsbühnenbild auf unebenem
Grund, das mehr wie Macbeths „dürre Heide“ als wie Scotts
Schottland aussieht oder wie der Blick eines Touristen auf die
reizenden Trossachs, wo die Oper angesiedelt ist. An der Stelle im 2.
Akt, wo das Libretto nach einem Wald verlangt, kamen Komparsen mit
drei abgestorbenen Bäumen auf die Bühne und pflanzten diese in den
„Boden“. Jemand hinter mir murmelte: „Das muss Birnams Wald
sein“ – noch ein Bezug zu Macbeth.
Man
kann sich ausmalen, dass sich Ms. DiDonato nach ihren Erlebnissen in
der Titelrolle von drei unseligen, viel kritisierten modernisierten
Inszenierungen in Europa nach einer traditionellen Version sehnte. Da
gab es ja zunächst 2010 die Genfer/Wiener Regiearbeit von Christof
Loy, in der Malcom entweder das (weibliche!) Alter Ego der Heldin
oder ihre lesbische Geliebte ist. Elena heiratet dann den König,
nachdem sie entdeckt hat, dass ihr(e) Verlobte(r) lesbisch veranlagt
(oder sie selbst in einer tieferen Stimmlage?) ist. Diese Umsetzung
wurde so rundweg abgelehnt, dass die Primadonna sich veranlasst sah,
diese in ihrem Blog zu verteidigen, wobei sie gleichzeitig erklärte,
dass sie keinen Einfluss auf das habe, was verrückte Regisseure tun.
Danach erlebte man in Paris die Inszenierung von Lluis Pasqual, die
in einem Opernhaus spielte, das der klassischen Salle Garnier (wo
diese Produktion auf die Bühne kam) ähnelte, mit gewollt alten,
abgewetzten Bühnenaufbauten und Figuren in Rüstungen, aber auch
(einigen) in Abendkleidung, die wie Opernbesucher in der damaligen
Zeit aussahen. Diese Inszenierung, die auch in Mailand zu sehen war,
sollte eigentlich in London übernommen werden, wurde aber so sehr
verspottet, dass Covent Garden sich für eine eigene Produktion
entschied, die fürchterliche Inszenierung von John Fulljames.
Deshalb
wählte Curran in Santa Fe einen traditionellen Ansatz und bewies
nur, dass eine traditionelle Inszenierung langweilig, ja sogar bizarr
sein kann. Nicht nur das Hauptbühnenbild (ohne See weit und breit)
war hässlich, sondern auch die zweite Szene, die in Elenas Hütte
spielt, und die wie ein mittelalterliches Buswartehäuschen aussah.
[…] Schauplatz der ersten Szene des zweiten Aktes ist laut Libretto
ein dichter Wald mit einer Höhle, hier jedoch diese Heidelandschaft,
verunziert durch zahlreiche Spieße, auf deren Spitzen abgetrennte
Köpfe zu sehen sind, vermutlich derjenigen, die in der jüngsten
Schlacht zwischen König und Hochlandbewohnern erschlagen wurden. In
diese grauenhafte Szenerie tritt Giacomo, um sein Liebeslied „Oh
fiamma soave“ zu singen. Anscheinend bemerkt er diese Köpfe nicht
oder kümmert sich nicht darum, wie unpassend seine leidenschaftliche
Liebeserklärung inmitten der Enthauptungsopfer ist. Als Elena für
ihr Duett die Bühne betritt, das zum Terzett wird, ist sie auch von
diesen abgetrennten Köpfen umgeben, die man kaum übersehen kann,
aber meistens gelingt es den drei Akteuren.
Wenn
im Finale I die Barden aufgefordert werden, ihren großen von der
Harfe begleiteten Chor zu singen, mit dem sie die Krieger, die in die
Schlacht ziehen, segnen wollen, kommen sie auf die Bühne gelaufen
mit türkisblauen Gesteinsbrocken in den Händen, die aussehen, als
wären sie bei einer der weniger bedeutenden Produktionen von Peter
Sellers übrig geblieben. Die Barden tragen keine Hemden, sondern
sommerliche Gewänder von derselben Farbe wie ihre Felsbröckchen.
Sie räkeln sich in einem veralteten, opernhaften Hoochie-Coochie
[erotische Tanzform in den USA vom späten 19. bis frühen 20.
Jahrhundert], der nur dann bardenhaft oder schottisch ist, wenn
„Barden“ College-Studenten sind, die sich mit schottischem Whisky
betrunken haben und sich als Stripper in einem billigen Nachtklub in
Marion, Indiana etwas dazuverdienen (für Choreographie zeichnete
niemand verantwortlich, und das ist auch gut so). In dieser
Inszenierung wird übrigens eine Menge getrunken: Rodrigo lässt sich
volllaufen, ebenso Malcom und Duglas – ich schätze, es ist „single
malt“.
Die
Soldaten schwenken schottische Flaggen mit dem Andreas-Kreuz auf
blauem Grund. Das mag historisch zutreffend sein oder auch nicht –
mich erinnerte das jedenfalls an die Fußballweltmeisterschaft, und
ich glaube, Schottland schnitt beim letzten Mal nicht besonders gut
ab. Weil es keinen See gibt, gibt es auch kein Boot, und das ist
besser als in der Covent-Garden-Produktion. Dort im Royal Opera House
stellten sich nämlich Elena und Uberto, als sie im 1. Akt in einem
Ruderboot losfahren sollten, vor das Modell eines Dreimastschoners in
einer Glasvitrine. So sieht also „nel piccol legno“ (das im
Libretto genannte kleine Boot) aus !
Die Schlussszene des 2. Aktes in Stirling Castle setzt ein, als der Hofstaat (alle in schönen Kostümen) aus dem Hintergrund auf einem Podium sichtbar wird, die Lichter endlich angehen und die etwas düstere Inszenierung zwar etwas plötzlich aber gerade rechtzeitig für „Tanti affetti“ in hellem Licht erstrahlt. Für die Lichtregie war Duane Schuler verantwortlich – viel hat er nicht gemacht.
Die Kostüme stammten wie das Bühnenbild von Kevin Knight. Ms. DiDonato sah mit ihren langen roten Haaren und einem schlichten, historisierenden Kleid atemberaubend schön aus, und einer der erfreulichen Momente in dieser Inszenierung ist ihr erster Auftritt im 1. Akt: Sie tritt von hinten auf die Bühne, die den Blick auf den Himmel New Mexicos freigibt, gerade als in der Ferne die echte Sonne über Los Alamos untergeht (nach dem Libretto ist es zwar die Zeit der Morgendämmerung, doch seien wir nicht zu kleinlich!). Sie bückt sich, um ein paar Zweige Heidekraut (vermute ich) zu pflücken, und für einen Augenblick sind wir alle verzaubert. Marianna Pizzolato in der Hosenrolle des Malcom wirkte hingegen in ihrer Nicht-Verkleidung wie eine Matrone mit mehr als einem Kinn, zumal in ihrer außergewöhnlich hässlichen Ausstaffierung aus kariertem Schottenstoff, die ihr Hinterteil betonte. Wenn sie einige Male ihr Schwert zog, löste dies Gekicher im Publikum aus – es passte einfach nicht zusammen.
Mit
Ausnahme von DiDonato, die sich in dieser Partitur gut auskennt und
die glücklich gewesen sein dürfte, nicht mit einem lesbischen
Transvestiten verlobt zu sein, war die Schauspielkunst bei den
anderen nur rudimentär und voller opernhafter Klischees. Der aus
Schottland stammende Regisseur hat seinem Heimatland mit seiner
Vision einer kargen Landschaft ohne See keinen Gefallen getan.
Abgesehen von diesen Kritikpunkten schätze ich, dass diese
Produktion der Santa Fe Opera besser ist als eine der drei
europäischen, die Ms. DiDonato durchlitten hat. Denn wenigstens
versucht die Inszenierung meistens dem Libretto zu folgen und nicht
dieses neu zu erzählen (Fulljames) oder die Vorstellung zu erwecken,
dass es sich um ein in Ehren ergrautes, altmodisches Stück handelt
(Pasqual) oder es aus reiner Bosheit zu verfälschen (Loy).
Und
dann ist da natürlich noch der Gesang. Jede Rezension, die ich
gelesen habe, hebt Ms. DiDonato in den Himmel, und dies völlig zu
Recht. Sie ist die uneingeschränkte Meisterin dieser Musik, viel
besser als June Anderson vor zehn oder fünfzehn Jahren oder
Frederica von Stade vor dreißig Jahren. Sie ist in absoluter
Bestform: Stimmglanz, Spitzentöne, Triller, Fiorituren usw. Und als
Krönung des Ganzen ist sie eine schöne Frau von 44 Jahren, die
restlos überzeugend eine ungefähr 20 Jahre junge Frau ist und
spielt. Wenn ihre Leistung, die ich im Juni von ihr in London
erlebte, geringfügig (aber wirklich nur um eine Winzigkeit) besser
war als diese in Santa Fe, dann hatte dies vielleicht mit der
Höhenluft (knapp 2500 m) oder der Freilichtbühne oder der kühlen
Abendbrise zu tun.
Auch
Lawrence Brownlee war sehr gut. Ich vergleiche ihn nur ungern mit
Juan Diego Flórez, wahrscheinlich seinem einzigen Konkurrenten in
diesem Repertoire, möchte aber doch sagen, dass Flórez immer seine
äußerst hohe Tessitura mühelos auszusingen scheint, während man
bei Brownlee manchmal merkt, wie schwer dies in Wirklichkeit ist. Er
ist hervorragend, schwebt aber nicht wie Flórez mit einer gewissen
Nonchalance durch die schwierigsten Passagen. Desgleichen ist
Marianna Pizzolato als Malcom sehr gut, doch ihr unbestrittenes
Gesangspotenzial erreicht nicht ganz das Niveau von Daniela
Barcellona, welche diese Rolle in London sang. Außerdem kann die
großgewachsene Barcellona – trotz ihrer ebenso hässlichen
Schottentracht – mit weitaus größerer Glaubwürdigkeit einen Mann
spielen. Den Rodrigo sang hier in Santa Fe René Barbera, den ich im
vergangenen Jahr in der Los Angeles Opera als Prinz Ramiro in La
Cenerentola hörte.
Auch dieses Mal beeindruckte er mit seinen klangvollen Spitzentönen
und sicherer Koloraturtechnik. Doch Rossini komponierte die Rolle des
Rodrigo für Andrea Nozzari, einen der größten Tenöre seiner Zeit,
dessen stimmliche Möglichkeiten ihm offensichtlich nicht nur
kraftvolle Töne im oberen Register, sondern auch im tieferen Bereich
erlaubten und er deshalb große Sprünge vom hohen C ins fast
baritonale Register machen konnte. Barbera war großartig im oberen
Tonbereich und schmetterte seine hohen Cs in Hülle und Fülle im
Duell-Duett mit Mr. Brownlee, doch wenn er mit der Stimme nach unten
gehen musste, wurde sie immer schwächer. Da er ein junger Sänger
ist, wird er wahrscheinlich mit der Zeit sein tieferes Register
weiterentwickeln können. Auf der anderen Seite wurde Giacomo/Uberto
ursprünglich von Giovanni David gesungen, einem weiteren
Spitzentenor, dessen Tessitura duchweg hoch liegt. Dieser Kontrast
kann das Terzett „Parla…chi sei?“ im 2. Akt so spannend machen.
In London sang Colin Lee den Rodrigo, ein Tenor, der „sowohl hoch
wie tief singen kann“, um einen Satz aus Shakespeares Was
ihr wollt
(II/3) zu zitieren. Wayne Tigges (Duglas) schien mir überfordert zu
sein, obwohl er vor kurzem den Pharao in der New York City
Opera-Produktion von Mosè
in Egitto
gesungen hatte.
Dirigent
Stephen Lord schien mir mit seinen Tempi nicht immer genau richtig zu
liegen, doch der Chor spielte und sang voller Leben. Diese Produktion
benutzte die kritische Partiturausgabe mit Bühnenorchestern an den
richtigen Stellen, einschließlich der Einleitungsmusik vor dem
überwältigenden Schlussteil des Rondo-Finale „Fra il padre e fra
l’amante“.
Nachdem
ich im vergangenen Sommer in Santa Fe Maometto
II und
vorher viele weitere großartige Inszenierungen von Rossinis opere
serie
gesehen habe, frage ich mich, warum es für Regisseure so schwer ist,
gerade dieses Melodrama werkgerecht auf die Bühne zu bringen. Es
heißt, die Metropolitan Opera will diese Santa-Fe-Produktion nach
New York bringen, wahrscheinlich 2014/15 zur dortigen Erstaufführung.
Ich könnte mir vorstellen, dass das für die viel kleinere Bühne in
Santa Fe entworfene Bühnenbild ausgebaut werden müsste –
vielleicht kommt ein See hinzu?! Ich hoffe aber auch, dass andere
Details verändert werden, bevor die Oper an der Met aufgeführt
wird: man sollte sich der bardenähnlichen, blauen Schlängelwesen
entledigen und diese lebensechten abgetrennten Köpfe in Opernhäuser
schicken, die eine Aufführung der Salome
ins Auge gefasst haben. Ich kenne nicht die Namen der für New York
geplanten Sänger(innen), aber die Besetzungsliste wird sicher Ms.
DiDonato als Titelheldin aufweisen. Sie verdient etwas Besseres als
das, was sie bisher bekommen hat; vielleicht wird die Met ihr endlich
eine Inszenierung bieten, die ihres Talents würdig ist.
Charles
Jernigan
(Besuchte Aufführungen: Premiere vom 17. Juli und 1. August 2013)
Bearbeitung
und Übersetzung aus dem Amerikanischen von Walter K. Wiertz
Originalfassung
unter:http://www.operapronto.info/journal.html#santafe
(*)Es
sei darauf hingewiesen, dass Tottola nicht von Barbaja, sondern von
der „Impresa“, also der Theaterleitung spricht. Und da Rossini
zu dieser Zeit die Musikalische Direktion der Königlichen Theater
innehatte und auch für die Auswahl der Libretti zuständig war,
dürfte Tottola Rossini selbst gemeint haben. Vgl. auch «La
Gazzetta» 2012, S. 61, Fußnote 46 (Anm.d.R.)
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Anm.: In einem weiteren Bericht im Opera Journal ("Ladies 3; Lakes 0 - August 26, 2013")
befasst sich Charles Jernigan mit Michael Spyres als Rodrigo in der konzertanten Aufführung beim diesjährigen Rossini Opera Festival in Pesaro:
befasst sich Charles Jernigan mit Michael Spyres als Rodrigo in der konzertanten Aufführung beim diesjährigen Rossini Opera Festival in Pesaro:
"King James V, disguised as "Uberto," is a high tenor role and his rival, the Highland Chieftain, Rodrigo, is what we might call a bari-tenor, that is a tenor able to sing very high notes but also able to descend into the baritone register. Originally the roles were sung by Giovanni David and Andrea Nozzari, respectively. The bari-tenor is an unusual species today, and although Colin Lee in London managed to sing it, Rene Barbera in Santa Fe had ringing high notes, but his voice faded away when he had to descend into the baritone register. In Pesaro this year the Rodrigo was Michael Spyres, who hails from Missouri, and who is gaining a major reputation as a tenor in this repertory. Based on the evidence of this performance, he is a true bari-tenor, able to leap tall buildings at a single bound (excuse me, I got my heroes mixed up)--able to sing high notes with ease and plunge to low ones with a full and resonant voice. A friend who has a better ear than I do assured me that he reached a "D" above high "C." At any rate, Mr. Spyres is scheduled to sing the lead tenor role of Arnold in William Tell in Wichita, Kansas, in mid-February, and if I am anywhere close, I will go to see him."
s. auch die Beiträge hier im Blog:
7. September 2013 - Ein erneuter Triumph in London
bei The Last Night of the Proms:
(Peinlich die BBC-Ansage: "Giacomo Rossini")