3. Juli 2012

"Die unglückselige Cleopatra" – Oper von Johann Mattheson (1704) in der Opera stabile der Hamburgischen Staatsoper


Im Februar 2011 hatte ich anlässlich der damals noch bevorstehenden Jubiläumsspielzeit 333 Jahre Oper in Hamburg über die Gänsemarktoper geschrieben. Telemanns "Flavius Bertaridus" ging im Oktober 2011 erfolgreich über die Bühne (da ich nach längerer Unterbrechung erst wieder ab Frühjahr 2012 mit dem Posten begonnen habe, werde ich über diese Produktion nach der Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit berichten). Ihren Abschluss fand die Jubiläumsspielzeit nun mit Aufführungen von Matthesons "Cleopatra".

Alljährlich zum Ende der Spielzeit gibt es eine Produktion des Internationalen Opernstudios, - im Wechsel zeitgenössische oder barocke Oper. Dieses Jahr stand – passend zum Jubiläum - die 1704 an der Gänsemarktoper uraufgeführte Oper "Die unglückselige Cleopatra oder Die betrogene Staats-Liebe" auf dem Spielplan, um einiges gekürzt im Vergleich zu der 2006 konzertant im Bucerius Kunstforum aufgeführten Fassung.

Während das Publikum in der Opera stabile Platz nimmt, lümmelt sich vor einem Fernseher ein junger Mann und konsumiert Chips und Videos mit alten Filmen: Hollywood-Spektakel um die schöne Cleopatra. Die Film-Bilder werden auf die transparente Pyramide in der Mitte projiziert, in der das Orchester Platz genommen hat und um die herum dann auf wüstensandigem Boden das Spektakel lebendig wird, - der Fernseher wird beiseite geräumt, der junge Mann betrachtet vergnügt das alles jetzt von oben von der Galerie aus und greift dann zu gegebener Zeit selbst in die Handlung ein.

Zunächst aber erhalten wir Einblick in das Privatleben Cleopatras. Marcus Antonius hat sich an einen einsamen Ort zurückgezogen, um fern von „Herrschsucht, Zank und Neid“ ein ruhiges Leben zu führen. Und vor Cleopatra will er auch seine Ruhe haben, wie seiner Arie zu entnehmen ist: „Ich will geruhig leben und muss ihr süßes Heucheln, ihr angebornes Schmeicheln großmütig widerstreben, sie soll betrogen sein“. Kaum dies gesungen, erscheint die reizende Cleopatra und betört ihn, wieder nach Hause zurückzukehren, - zu ihr und den beiden gemeinsamen Kindern Candace und Ptolemaeus. Diese Kinder sind bereits im heiratsfähigen Alter, ihre Irrungen und Wirrungen in Liebesdingen sind ein wesentlicher Teil der Geschichte, die in dieser Oper erzählt wird. Und was ist nun die im Titel genannte „betrogene Staatsliebe“?


Der römische Kaiser Augustus - den gibt jetzt der eingangs erwähnte junge Mann aus der Psychiatrie - hat die Ägypter besiegt, Antonius weigert sich aber weiterhin, Cleopatra zu verlassen und zu seiner Frau Octavia nach Rom zurückzukehren. Daraufhin beschließt Augustus, eine List anzuwenden: Er will zum Schein um Cleopatra werben und ihr vorgaukeln, sie zur römischen Kaiserin zu machen. Die Rechnung geht auf: Kaum hat Cleopatra den Brief des Augustus erhalten, ist sie bereit, Antonius zu verraten. Antonius wird die Falschmeldung überbracht, Cleopatra habe sich vergiftet. Er ersticht sich. Cleopatra bereut nicht nur ihre Untreue, sondern hat inzwischen auch die unehrlichen Absichten des Augustus durchschaut. Um nicht als Siegestrophäe nach Rom gebracht zu werden, begeht auch sie Selbstmord. Die Oper endet dann aber doch mit einer fröhlichen Szene, in der Augustus die beiden glücklichen Liebespaare vereint: "Wohlan, es sei, um wieder zu versüßen den Unfall, der euch hart getroffen hat, will ich euch die verlobten Hände schließen"....Der Regisseur Holger Liebig glaubt aber nicht den Worten des Augustus vom "beliebten Freudenschein", der die jungen Leute erwartet, sondern zeigt die Kehrseite der Medaille, nämlich dass Augustus, der sich selbst zum Vormund der beiden Kinder ernannt hat, diese in seiner Gewalt hat ...und sie - nebst den gerade Angetrauten - aus dem Wege räumt. Oder ist das nur die Fantasievorstellung des jungen Mannes aus der Psychiatrie? Den hat sein Wärter inzwischen wieder mit Knabberzeug versorgt und vor den Fernseher gesetzt.

Die Musik zu dieser Handlung besteht aus einer raschen Abfolge von Rezitativen und meist kurzen Arien oder Ensembles, die keine übermäßigen technischen Anforderungen an die Sänger stellen. Anders als im "Boris Goudenow" ist der Text durchgehend auf Deutsch und ohne Einschub italienischer Arien.  Es gibt bei Mattheson keine koloraturgespickten Bravourstücke, auch keine Dacapo-Arien, sondern seine Musik ist bestimmt durch schlichte Melodiebildung, wie er es auch in seinen musikwissenschaftlichen Schriften dargelegt hat. Seine Schriften - z. B. "Das neu-eröffnete Orchester" (1713) und  "Der vollkommene Capellmeister" (1739) - gelten auch heute noch als "Gebrauchsanweisungen" für die barocke Aufführungspraxis. Dass sich auch der Dirigent Nicholas Carter (auch am Cembalo I) damit beschäftigt hat, ist anzunehmen. Jedenfalls war es eine Freude, dem farbenreichen Spiel des aus zwölf  Philharmonikern gebildeten kleinen Orchesters zuzuhören.

Die Sänger und Sängerinnen des Internationalen Opernstudios sind mir natürlich von Aufführungen im Großen Haus bekannt. In der Akustik der kleinen Opera stabile klangen sie zunächst ungewohnt, insbesondere die teils zu große Lautstärke war gewöhnungsbedürftig. Die Titelpartie sang mit klangschönem und facettenreichem Sopran die 1990 geborene Mélissa Petit, die als bisher jüngstes Mitglied des Internationalen Opernstudios vor zwei Jahren nach Hamburg kam und jetzt für ein drittes Jahr im Opernstudio verbleibt. Für den im Großen Haus in der kleinsten Rolle positiv auffallenden Tenor Paulo Paolillo schien die Partie des Antonius teilweise unbequem tief zu liegen. Der Bassist Levente Páll als Augustus war sängerisch und darstellerisch eine wahre Freude. Ich möchte hier nicht alle einzeln aus der Besetzungsliste (s. u.) aufführen, die allesamt ihren guten Teil zum Gelingen der Produktion beigetragen haben, aber hervorheben möchte ich doch noch die beiden Gäste, beides Absolventen der Hamburger Musikhochschule: Nerita Pokvytyte als extrovertiert ausdrucksstarke und auch darstellerisch sehr präsente Mandane, und ganz besonders Daniel Philipp Witte, der in der Rolle des  Dercetaeus, Diener des Antonius, mit klangschönem Tenor, guter Diktion und umwerfender Bühnenpräsenz als Spaßmacher ein Kabinettstück nach dem anderen bot, dass man aus dem Staunen nicht herauskam.

In den Werken der Gänsemarktoper gab es üblicherweise die Rolle des Komödianten, der sich als Element des Volkstheaters in die Handlung einmischt und diese und ihre Akteure kommentierend und oft mit anzüglichen Sprüchen auf die Schippe nimmt. Mit mehrstrophigen Arien, die beinahe wie Offenbachsche Couplets vorgetragen wurden, erscheint Dercetaeus z. B. bei Cleopatras Gastmahl als Schornsteinfeger. Der seiner Arie vorausgehende Dialog mit Cleopatra über das Fegen der Öfen in ihrem Schlafgemach wurde leider ausgelassen; der Auftritt war als nur an das Publikum gerichtete Einlage inszeniert. Über machthungrige Frauen äußert er sich in einer Travestienummer gar vier Strophen lang auf Plattdeutsch: "Wat stellt sick doch en Deren vertwifelt hillig an? Un kumt se eerst thum Mann, so will se stracks regieren."* Und wenn Augustus an der toten Cleopatra die Schlangenbisswunde inspiziert und überlegt, ob man ihr nicht das Gift aus allen Gliedern saugen könnte, besingt Dercetaeus in einer Arie ein an seinem Weib erprobtes "gut Klistier".

*Kompletter Text unten bei den Nachträgen

Im Vergleich zu diesen gekonnten Auftritten wirkte die sonstige szenische Gestaltung oft doch eher unbeholfen. Unzureichende Personenregie oder Absicht? Oder einfach nur Folge der fehlenden Distanz zwischen Publikum und Bühne?  Es wurde jedenfalls viel herumgestanden, was ja in der Barockoper durchaus szenisches Stilmittel sein kann, dann aber mit dem entsprechenden Ausdruckskanon an Gesten, Haltung und Bewegungen (s. die Videos im Beitrag zur Aufführung von Matthesons "Boris Godounow" hier). Aber das hieße sicherlich, von einer kurzlebigen Opernstudio-Produktion zu viel zu erwarten.


Belebt wurde die Szenerie durch drei Tänzer, die neben einer Tanzeinlage auch weitere Auftritte hatten, z. B. als Bedienstete am Hof Cleopatras oder als Schornsteinfeger; zusammen verkörperten sie auch - mit entsprechend dekorativer Bemalung der Oberkörper - die Schlange, deren Biss Cleopatra tötet, - eine gelungene Alternative zu der sonst wohl unvermeidlichen Plastikschlange.

Unvermeidlich ist es aber, bei dieser Oper auf den legendären Eklat zwischen Mattheson und Händel bei der letzten Vorstellung der am 20. Oktober 1704 uraufgeführten "Cleopatra" einzugehen. Händel war seinerzeit u. a. als Cembalist an der Gänsemarktoper tätig und vertrat Mattheson in der musikalischen Leitung der Aufführung seiner "Cleopatra", in der Mattheson, der auch Sänger war, als Antonius auf der Bühne stand. Nach dessen Bühnentod wollte er wie üblich den Platz am Cembalo einnehmen und die Vorstellung zu Ende führen, was Händel dieses Mal aber verweigerte. Es soll da ein ziemliches Gerangel am Cembalo gegeben haben, - wer "Sieger" blieb oder ob die Vorstellung gar abgebrochen wurde, habe ich nicht herausfinden können, jedenfalls aber soll es zwischen den beiden Streithähnen zu einem Duell auf dem Gänsemarkt gekommen sein, dessen Ausgang Mattheson selbst wie folgt schildert:  „welcher für uns beide sehr unglücklich hätte ablaufen können, wenn es Gottes Führung nicht so gnädig gefüget, daß mir die Klinge im Stoßen auf einen breiten, metallenen Rockknopf des Gegners zersprungen wäre“ (zitiert nach
Wikipedia). Legende oder Wahrheit? Gibt es Berichte weiterer Augenzeugen? Dass der NDR in seinen TV-Produktionen zum Händeljahr 2009 ("Händel - Der Film" bzw. "Händel in Norddeutschland") aus dem Rockknopf einen Notenstapel gemacht hat, den Händel in der Spielszene grinsend unter seinem Rock hervorzieht, sei nur am Rande erwähnt; auf der Internetseite des NDR ist es jedenfalls weiterhin der Knopf ...

Besuchte Vorstellung: 24. Juni 2012

Bilder: Programmheft der Hamburgischen Staatsoper

Zitate: Programmbuch der Aufführung im Bucerius Kunstforum 2006 






Die konzertante Aufführung 2006 im Bucerius Kunstforum ist auf CD (mit Libretto)
erschienen und wurde von St. Jacobi Hamburg für € 25,00 an
einem Stand in der Opera stabile angeboten, ist also noch lieferbar.

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Drei deutsche Barockkomponisten - Dreimal Cleopatra
Johann Mattheson - Johann Adolf Hasse - Carl Heinrich Graun
Johann Mattheson "Die unglückselige Cleopatra"
 Johann Adolf Hasse "Marc'Antonio e Cleopatra"
(Zum 250-jährigen Bestehen der Berliner Staatsoper Unter den Linden )
Hierzu erhielt ich einen Hinweis auf Videos bei Vimeo:
Teil 1 und Teil 2 (nicht komplett, aber zusammen 2,5 Stunden!)

 ... und 4. natürlich auch Händel:

"Giulio Cesare in Egitto"
Se pietà di me non senti
Se pietà di me non senti
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Nachträge:


Der komplette Text der plattdeutschen Arie des Dercetaeus:

Wat stellt siek doch en Deren
vertwifelt hillig an?
Un kumt se eerst thum Mann,
so will se stracks regieren.
Da heet et bald: du arme Blot,
nimm du de Schört, giff my den Hot,
ick willt in allen Saken
et uht de Wysemaken.

Da geit et an thum mäkeln,
da is bald dit bald dat,
de krancket weht nich wat,
daräver se muth kekeln!
Da is dat Aas so Superklok,
dat ok des Mannes Prük un Brok,
vor eren Schnack un Kiyen
nicht unvexert kann bliven.

Se gifft up sine Gänge
mit Argusogen acht.
Un kriggt se man Verdacht,
so is dat Huß tho enge.
Da lunt, da brummt dat Murmeldeert,
un prühnt de Näß und reit den Steert,
fangt entlick an tho bellen,
dat em de Ohren gellen.

Darüm so ist am besten
dat man so deit als ick,
un sick in süverlick
enthollt van sullken Gästen.
Erst sünt se aller Framheit vull,
herna so warrt se spetter dull,
un willt den Mann wat brüden,
dat mug de Velten liden.

 (Auszug aus dem Libretto im Programmbuch
zur konzertanten Aufführung am 10. und 11. Oktober 2006
Herausgeber: Bucerius Kunst Forum gemeinnützige GmbH)

Der Diener Dercetaeus hat die für die Werke der Gänsemarktoper typische Rolle des Spaßmachers, - sozusagen ein barocker Kabarettist als "Stimme des Volkes", der mit frechen Texten alles Mögliche aus Alltagsleben, Gesellschaft und Politik auf die Schippe nimmt und damit insbesondere das einfache Volk amüsieren soll, das auf den billigen Plätzen ebenfalls zum Publikum der Bürgeroper gehörte. In der Abhandlung von Kerstin Schüssler-Bach „... daß, wo die besten Bancken auch die besten Opern sind“ (Bürgerliche Lebenswirklichkeiten auf der Bühne der Hamburger Gänsemarkt-Oper) sind weitere plattdeutsche Zitate aus anderen Opern zu finden.

Homepage Daniel Philipp Witte

Libretto-Sammlung zur Gänsemarkt-Oper

Die obige Aufführungsrezension wurde im September 2012 - zusammen mit dem Opsatz "Cleopatra in Plattdüütschland" von Thomas Stelljes - in "Quickborn - Zeitschrift für plattdeutsche Sprache und Literatur" (102. Jahrgang - Heft 3/2012) veröffentlicht.

Aufführungsrezension auf Welt.de: Cleopatratragödie mit großer Tonfilmgeste