2. Juli 2012

Mit barocker Bühnengestik: "Boris Goudenow" von Mattheson (Hamburg - St. Petersburg - Moskau 2007) bei YouTube als Video


Im Februar 2011 hatte ich anlässlich der damals noch bevorstehenden Jubiläumsspielzeit 333 Jahre Oper in Hamburg über die Gänsemarktoper und u. a. auch über die Oper "Boris Goudenow" von Johannes Mattheson geschrieben.
Nun habe ich eine besonders erfreuliche Entdeckung gemacht: es gibt bei YouTube Videos der kompletten Oper von Johann Mattheson „Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Trohn“ (1710), und zwar in der Inszenierung, die am 30. August 2007 im Hamburger St. Pauli Theater anlässlich der 50-jährigen Städtepartnerschaft mit St. Petersburg mit einer einzigen Vorstellung Premiere hatte und später im selben Jahr auch in St. Petersburg und Moskau gezeigt worden ist. Dank sei dem Spürsinn des Betreibers des Blogs Operas on YouTube! Denn da alle Angaben zu den drei Videos (jeweils ein Akt) ausschließlich in kyrillischer Schrift sind, tauchen diese Videos in den mir zugänglichen Suchergebnissen von YouTube natürlich nicht auf. Der Video-Abspann mit den Besetzungsangaben ist aber glücklicherweise auch auf Englisch; ich habe für Namen allerdings die Schreibweise der Hamburger Aufführung gewählt. Die Synopsis zu den einzelnen Akten ist ebenfalls eine Übernahme aus dem Hamburger Programm. Die Links unter den Screenshots führen zu den Videos bei YouTube.
Aus dem Abspann des Videos mit Akt III
Entstehung und Uraufführung des "Boris Goudenow":
Mattheson hatte diese Oper zwar 1710 für die Hamburger Gänsemarktoper komponiert, zur Aufführung kam sie dort aber nicht. Möglicherweise – so wird spekuliert - befürchteten die Hamburger Kaufleute, dass ihre gut gedeihenden Handelsbeziehungen zu dem gerade erst gegründeten St. Petersburg Schaden nehmen könnten... Und so blieb das Werk vergessen, in den Wirren des Zweiten Weltkriegs gelangte das Notenmaterial nach Armenien, wo es von dem Kirchenmusiker und Musikforscher Johannes Pausch in den sog. „Eriwan-Beständen“ aufgespürt wurde, die dann 1999 an die Hamburger Staatsbibliothek zurück gelangten. Die konzertante Aufführung unter Rudolf Kelber am 29. Januar 2005 im Hamburger Bucerius Kunst Forum war somit die Uraufführung dieser Hamburger Barockoper! Schon 2007 folgte dann die szenische Aufführung im St. Pauli Theater.

Barocke Bühnengestik:
Das Besondere dieser "experimentelle(n) Barocktheaterproduktion von EARLYMUSIC RUSSIA" ist die Wiederbelebung bzw. Rekonstruktion barocker Aufführungspraxis. Auf der - mit Ausnahme von Podesten - fast leeren Bühne verharren die in prächtige Barockkostüme gewandeten Solisten meist statuarisch und setzen die musikalischen Affekte in stark formalisierte, aber ausdrucksstarke Gesten um. Auch die Bewegungsabläufe sind weitgehend stilisiert. Diese barocke Bühnengestik kann man nun in diesen Videos im Gesamtzusammenhang einer kompletten Inszenierung auf sich wirken lassen. Fast zwei Jahre später - nämlich im März 2009 bei den Händelfestspielen in Karlsruhe - erregte ein ähnliches Experiment größeres Aufsehen und viel Begeisterung: Händels Oper "Radamisto" in szenisch-historischer Aufführungspraxis (s.z. B. die Berichte im Online Musik Magazin und bei nmz online); die Regisseurin Sigrid T'Hooft, Dozentin für Barocke Gestik und historische Aufführungspraxis, konnte dabei auf das Soufflierbuch der Uraufführung und auf eine zeitgenössische Choreografie zurückgreifen. Dass auch bereits das Team der St. Petersburger Inszenierung um den Choreographen Klaus Abromeit sorgfältiges Quellenstudium betrieben hat, zeigt ein Vergleich mit einigen Szenen aus der Karlsruher Produktion von 2009 (bzw. der Wiederaufnahme 2010) in Videos bei YouTube.



Handlung 1. Akt:
Der müde Zar Theodorus ruft den Kronrat zusammen und erklärt den aufstrebenden Boris Goudenow zum Statthalter von Moskau. Boris unterlegener Rivale Fedro findet hingegen die Gnade von Zarin Irina. Ihre Liebe beginnt unter dem diskreten Mantel der höfischen Minne. - Boris Goudenow unternimmt indessen erste Schritte als Regent und versteht es, u. a. den jungen Fürsten lvan sowie den fremden Prinzen Gavust an sich zu binden. - Die schöne Fürstin Olga tritt auf, sie ist ihm an Gewandtheit ebenbürtig. Mit ihr tritt Josennah, ein weiterer Prinz aus der Fremde, in Erscheinung. Josennah ist jedoch weniger klug, als er es sich einbildet. Boris' anmutige wie schlaue Tochter Axinia führt ihn geschickt an der Nase herum und erklärt den Prinzen Gavust zu ihrem Ritter. - Zuletzt versammelt sich der Hof im Schlafgemach des schwerkranken Zaren. Theodorus gelingt es nicht, einen Nachfolger zu bestimmen. Boris greift zur Macht.



Handlung 2. Akt:
Erschüttert vom plötzlichen Tod des Zaren gibt sich der Hof inbrünstiger Klage hin. Boris Goudenow macht sich die vorübergehende Lähmung der Köpfe zunutze. Mit demonstrativer Bescheidenheit legt er alle Macht nieder und begibt sich gemeinsam mit seiner Schwester, der vormaligen Zarin Irina, in ein Kloster. Boris' Feinde am Hof kommen aus der Deckung. Die Lage spitzt sich gefährlich zu. Eine Abordnung nach der anderen macht sich auf, um Boris aus dem Exil zu bitten.


 
Handlung 3. Akt:
Olga und Josennah müssen sich verzweifelt eingestehen, in Boris ihren Meister gefunden zu haben. Ihre Intrige ist kläglich gescheitert. Sie werden von Ivan und Gavust gestellt. Josennah wird nach kurzem Kampf vertrieben. Olga hingegen findet Gelegenheit zur Läuter­ung. Sie gibt am Ende Ivans stetigem Liebeswer­ben nach und eigene Machtambitionen auf. Axinia lernt an der Liebe nicht nur ihr Herz, sondern auch ihr Inneres kennen. Am schwersten tut sich Irina jedoch einzugestehen, dass man mit der Seele allein nicht lieben kann. Boris ist am Ende nicht nur Retter des Vaterlandes, sondern auch ein Patron der Liebenden. Er wird gefürchtet und geehrt, doch Liebe hat er selbst keine, oder doch? Vielleicht die seines treuen Dieners Bogda?

 
 Mitwirkende
Sergio Foresti, Bassbariton Theodorus Ivanowitz, russischer Großfürst von Moskau
Shadi Torbey, Bass Boris Goudenow, Bürgermeister von Moskau
Anke Herrmann, Sopran Irina, Schwester von Boris und Frau von Theodorus
Anna la Fontaine, Sopran Axinia, Tochter von Boris
Maria Seleznjova, Sopran Olga, eine russische Prinzessin
Trevor Bowes, Bassbariton Fedro, ein Bojar
Boris Stepanow, Tenor Ivan, ein Bojar
Dmitriy Golovnin, Tenor Gavust, ein fremder Prinz
Andrew Mackenzie-Wicks, Tenor Josennah, ein fremder Prinz
Aleksandre Bordak, Tenor Bogda, Diener von Boris
Grigoriy Kaganow, eine stumme Rolle Patriarch

Chor: Elena Alechina, Sopran Viktor Smirnow, Tenor Aleksei Busakin, Bassbariton
Kinderchor: Aleksei Nikitovski Peter Sorokin Alexandre Kornilov

Barock-Ballett Angiolini, St. Petersburg 
Barock-Orchester „Katharina die Große“, St. Petersburg 

Musikalische Leitung Andrei Reshetin
Regie und Choreographie: Klaus Abromeit
Kostüm- und Bühnenbild: Stephan Dietrich
Lichtgestaltung: Martin Östreich



Karlsruhe - Radamisto (2009):




 

Zu Johann Mattheson siehe auch:


Nachtrag:

Johann Joseph Fux - Orfeo ed Euridice (Schloss Damtschach - Premiere 10. August 2012):
Barockes Gesamtkunstwerk in Damtschach (ORF Kärtnen 10.8.2012)