27. Juli 2012

"I briganti" von Mercadante - Die Wiederentdeckung einer großartigen Belcanto-Oper bei "Rossini in Wildbad" 2012

Abb.: Wikimedia Commons
Saverio Mercadante (1795 - 1870) war zu seiner Zeit neben Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi ein anerkannter Komponist. Zwischen 1819 und 1856 komponierte er 57 Opern - geschaffen für die großen Opernhäuser und die besten Sänger seiner Zeit. In den letzten Jahrzehnten sind einige seiner Opern bei Festivals zur - meist konzertanten - Wiederaufführung gelangt, einiges ist auch auf LP bzw. CD aufgenommen: Il bravo, Il giuramento, La vestale, Virginia, zuletzt I due Figaro (bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2011 und anschließend u. a. auch in Madrid). Das Libretto zu I due Figaro war bereits zuvor von Michele Carafa vertont worden; diese Oper von Carafa kam 2006 bei "Rossini in Wildbad" zur szenischen Aufführung (auf DVD veröffentlicht). 2007 brachte "Rossini in Wildbad" in einer konzertanten Aufführung Mercadantes einzige Farsa Don Chisciotte alle nozze di Gamaccio (auf CD erschienen). Die diesjährige moderne Erstaufführung von I briganti dürfte ein Meilenstein auf dem langen Weg der Wiederentdeckung eines zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Komponisten sein.


Ein kurzer Blick auf die Pariser Opernlandschaft der 1830er Jahre: Rossinis letzte Oper Guillaume Tell - eine französische Grand opéra - war 1829 uraufgeführt worden. Als Direktor des Théâtre Italien erteilte Rossini Kompositionsaufträge für neue italienische Opern: u. a. I puritani von Bellini (Uraufführung am 24. Januar 1835) und Marin Faliero von Donizetti (12. März 1835). I briganti (nach Die Räuber von Schiller) von Mercadante wurde am 22. März 1836 am Théâtre Italien erfolgreich uraufgeführt, - allerdings zu einem ungünstigen Zeitpunkt, ging Mercadantes Oper doch in den Wogen der Begeisterung unter, die um die am 29. Februar 1836, also nur drei Wochen zuvor, uraufgeführte Oper Les Huguenots von Meyerbeer entstanden war. In den Jahren bis 1847 stand die Pariser Fassung von I briganti an diversen Opernhäusern in und außerhalb von Italien auf dem Spielplan - das Programmheft führt 12 Produktionen auf -, für die Mailänder Scala überarbeitete Mercadante 1837 das Werk.

Foto: Patrick Pfeiffer / RiW
Die Pariser Fassung von I briganti ist ein Werk des Übergangs, der mit dem Schlagwort "Vom canto fiorito zum canto dramatico" bezeichnet wird. Wie Dr. Michael Wittmann, dessen Forschungen Grundlage der für "Rossini in Wildbad" von Florian Bauer erstellten Neuedition sind, im Programmheft darlegt, hat Mercadante prototypisch vieles vorweggenommen, was man in Unkenntnis seiner Werke heutzutage eher Verdi zuzuschreiben gewohnt ist:
"Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Parisaufenthalt 1835/36 einen Wendepunkt in Mercadantes Karriere markierte, insofern er sich fortan auf den italienischen Markt konzentrierte. Seine 1837 in Mailand uraufgeführte Oper Il giuramento verarbeitet und radikalisiert dabei die Pariser Erfahrungen. Dies betrifft zum einen die Formensprache, insofern er im Giuramento erst­mals auf Cabaletten verzichtet, die per se ein Hindernis für die dramatische Entwicklung einer Handlung darstellen; zum anderen propagiert er nunmehr den canto dramatico als Gegensatz zum canto fiorito. Das ist allerdings nicht als totale Absage an den Belcanto zu verstehen. Seine 1861 publizierte Gesangsschule zeigt vielmehr, dass er unter canto dramatico eher eine Art von charakteristischem Gesang versteht, also eine Unterordnung auch des Ge­sanges unter die Dramaturgie der Handlung. Damit hat er vorweggenommen, was etwa Verdi propagierte, als er forderte, die Lady Macbeth solle in ihrer Rolle stimmlich nicht brillieren, sondern einen eher fahlen (fahl jetzt als positiv gemeinten Ausdruckscharakter) Eindruck hinterlassen.
In diesem Sinne ist Mercadante auch selbst vorgegangen, als er nach der Premiere des Giuramento 1837/38 auch die Briganti überarbeitete. Anlass da­für war die Premiere an der Mailänder Scala. Da diese wesentlich größer war als das Pariser Theater, war ohnehin eine Verstärkung der Instrumentation gebo­ten. Mercadante nutzte den Anlass jedoch, das Werk quasi Takt für Takt zu revi­dieren und dabei vor allem in den Chören und den Gesangslinien zu schärfen und im Sinne des canto dramatico zu akzentuieren. In dieser Fassung ist sie eindeutig als .'Reformoper' zu klassifizieren, die für heutige Ohren eindeutig 'präverdianisch' klingt. Das gilt übrigens auch für die Umgestaltung des Schlusses: Indem Ermano Amelia und dann sich selbst ersticht, entschärft er (Zensur?) Schillers politisches Stück zum Schauer-Drama. Eine Wiederauffüh­rung der Mailänder Fassung würde uns eine weitere 'Reformoper' Mercadantes präsentieren; die Pariser Fassung dagegen zeigt musikalisch ein (heutzutage bemerkenswertes) Werk des Überganges, das zudem näher am Schillerschen Original verbleibt. Das haben übrigens auch schon Mercadantes Zeitgenossen so gesehen: nicht die Mailänder Bearbeitung sondern die Pariser Originalfas­sung hat sich auf den Bühnen durchgesetzt."

Klavierauszug (bitte anklicken):
Arie der Amalia "Quando guerrier mio splendido"
Was die musikalische Struktur anbelangt, so fällt auf, dass zwar das Schema von Szene - Arie - Cabaletta grundsätzlich beibehalten wird (wie es übrigens auch noch später bei Verdi zu finden ist, z. B. der Herzog im Rigoletto von 1851: Ella mi fu rapita - Parmi veder le lagrime - Choreinschub -  Possente amor mi chiama), dass Mercadante aber die Einzelnummern durch Überleitungen zu größeren Komplexen zusammengefasst hat. Der zweite Akt ist praktisch durchkomponiert. Die Aufspaltung der ursprünglich insgesamt nur sieben musikalischen Nummern in zahlreiche Einzelnummern wurde - so Dr. Wittmann in seinem Beitrag im Programmheft - nachträglich für den Klavierauszug vorgenommen.
Und so schreibt der Rezensent des Online Musik Magazin (omm) (s. Presseschau) bedauernd: "Dabei ist es schon beinahe eine Schande, dass Mercadante Ermanos großes Trinklied 'Trova ovunque e patria e tetto', das Ermano im Räuberlager anstimmt, und sein Gebet 'Fra nembi crudeli', in dem er kurz vor dem Treffen mit dem Vater Vergebung von diesem erhofft, so komponiert hat, dass dem Publikum - und dem Sänger - keine Möglichkeit zum Szenenapplaus gewährt wird."


Diese Pariser Originalfassung ist eine veritable Belcanto-Oper, Mercadante schrieb sie für ein Quartett überragender Sänger, nämlich für die gleiche Besetzung wie bei der Uraufführung von Bellinis I puritani: Giuditta Grisi, Giovanni Rubini, Luigi Lablache und Antonio Tamburini. Entsprechend anspruchsvoll sind die Partien, insbesondere der Tenorpart. Und es erscheint wie ein Wunder, dass für "Rossini in Wildbad" die richtigen Sänger für dieses abenteuerlich anmutende Wagnis gefunden werden konnten.

Foto: Patrick Pfeiffer / RiW
An erster Stelle ist Maxim Mironov zu nennen, der die hohe Tessitura des Tenorparts mit erstaunlicher Leichtigkeit bewältigte, höhensicher, aber auch ein Meister der leisen Töne. So wurde die Szene, in der Ermano seinen totgeglaubten Vater wieder findet, anrührendes Musiktheater; denn auch Bruno Praticò erwies sich als sensibel gestaltender Sängerdarsteller. Petya Ivanova glänzte als Amelia mit einem Koloraturfeuerwerk und berührte in innig gestalteten Passagen. Vittorio Prato als Corrado bestach durch die Klangschönheit seines - auch koloratursicheren - basso cantante. Auffallend klangschön auch der Bass Atanas Mladenov als Eremit Bertrando, ein junger Sänger, in dessen weitere Entwicklung man große Hoffnungen setzen kann. Auch Rosa Fiocco als Teresa und Jesús Ayllón als Räuber Rollero hatten trotz ihrer kleinen Partien ihren Anteil am großen Erfolg der Aufführung, ebenso der stark geforderte und gut einstudierte Camerata Bach Chor Posen. Die Virtuosi Brunenses konnten unter der engagierten Leitung von Antonino Fogliani die vielen Schönheiten des Orchesterparts zum Klingen bringen, der sich nicht auf die Begleitung der Sänger beschränkt, sondern auch einige interessant instrumentierte, klangmalerische Passagen enthält.


Foto: Patrick Pfeiffer / RiW
Die Inszenierung von Jochen Schönleber zeigt das zeitlose Thema eines seiner gutsituierten Familie entfremdeten Außenseiters, der die Seite gewechselt hat, des Aussteigers, für den es keinen Weg zurück aus der Gesetzlosigkeit gibt. Ermano - anfangs in Albträumen auf einer Pritsche liegend - sieht sein Leben in der Rückschau; Bildprojektionen zeigen Bilder aus der noch heilen Welt seiner Kindheit und Jugend, den dominanten Vater, den Bruder (als Tennispartner), Amelia, ihn selbst als Räuber/Revoluzzer, dazwischen ein Bild von Che Guevara. Assoziationen an soziale und politische Konflikte in Lateinamerika werden auch geweckt, wenn sein Vater nach seiner Rettung und Rückkehr ins Schloss der Familie wieder die weiße Uniform als Symbol der Macht der herrschenden Klasse trägt. Die Ausstattung der Bühne ist schlicht und sachdienlich, aufgesetzte Aktionen, die die Konzentration auf die Musik als Hauptsache stören könnten, gibt es nicht, abgesehen vielleicht von dem teils unverständlichen Gebaren der Teresa, das nicht zu einer Freundin, sondern eher zu einer Feindin / Konkurrentin passt. Die passenden Kostüme sind von Claudia Möbius.

Dank an "Rossini in Wildbad" für diese großartige Wiederentdeckung einer zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Oper!

Besuchte Vorstellung: 21. Juli 2012

Hinweis: Das von "Rossini in Wildbad" herausgegebene Libretto (Italienisch mit deutscher Übersetzung) ist jetzt hier erhältlich.

Foto (Vorstellung vom 18. Juli 2012): privat
v.l.n.r.: Vittorio Prato - Maxim Mironov - Antonino Fogliani

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