1. Juni 2003

"Il viaggio a Reims" - polnische Erstaufführung unter Alberto Zedda am Teatr Wielki in Warschau






Der Zug nach Reims geht um 22:59...

... so steht es groß auf der Anzeigetafel, wenn sich der Vorhang im Teatr Wielki – Opera Narodowa – in Warschau zur polnischen Erstaufführung von Rossinis "Il viaggio a Reims" unter der musikalischen Leitung von Maestro Zedda öffnet.

Die Reisegesellschaft hat sich im nüchternen Wartesaal eines heutigen und – den Aufschriften nach zu urteilen – polnischen Bahnhofs eingefunden. Ist so ja auch ein weiter Weg nach Reims! Der Ausblick auf die Gleise zeigt, dass sich rein gar nichts tut. Das hat eigentlich noch nichts zu sagen, die Bahnhofsuhr zeigt die wirkliche Uhrzeit an, es ist erst 19:00 Uhr und die Vorstellung ist schließlich auch vor 22:59 zu Ende, – aber da wusste man dann, dass es bei dem Zustand der Schienen mit der Abreise wirklich nicht klappen konnte. Aber schön der Reihe nach!

Sitzen müssen die Reisenden auf schlichten Holzbänken. Das Gepäck türmt sich, auch eine Harfe – (noch) in Schutzhülle – führt ein Reisender mit sich. Man blättert in einem TUI-Katalog, auf einem Fernseher laufen Filme – z. B. über ferne Reiseziele und über Fußballspiele –, beim Gran Pezzo Concertato ist dann dort auch Maestro Alberto Zedda beim Dirigieren zu beobachten. Der Conte di Libenskof (Rockwell Blake) – schick gekleidet in langem schwarzen Ledermantel und Lederhose – nimmt gelangweilt einen Drink an der Bar, wo Madama Cortese ihres Amtes waltet. Aus einem Gepäckstück wird ein – aus unerklärlichen Gründen total zerfetztes – rotes Abendkleid präsentiert, – der dramaturgisch notwendige Anlass zu dem Verzweiflungsausbruch der Contesse di Folleville, hinreißend gesungen und gespielt von der polnischen Sängerin Edyta Piasecka. Diese Sängerin von der Oper in Krakau, die mit der Folleville ihr Debüt an der Opera Narodowa gab, war für mich die Entdeckung des Abends. Sie sang ausdrucksstark mit runder und warmtimbrierter Stimme, geläufigen Koloraturen und sehr gekonnten Verzierungen. Im „Partir, o ciel“ waren die fallenden Koloraturläufe nicht einfach nur technisch gut gelungene Koloraturen, sondern sie klangen – und zwar ohne aufgesetzte nichtmusikalische Effekte und mit der Unterstützung durch die raffinierte Tempowahl Zeddas – wie tief empfundene Klageseufzer und wirkten in dieser Situation aus sich heraus einfach komisch; ich sah Rossini – ironisch zwinkernd – vor mir!

Die Besetzung bestand – mit Ausnahme von Rockwell Blake, der den Libenskof mit der bei ihm gewohnten Raffinesse sang, und José Manuel Zapata, der einen außerordentlich schönstimmigen und stilvollen Cavalier Belfiore sang, – aus polnischen Sängerinnen und Sängern, angeführt von der – wie immer atemberaubenden – Ewa Podles als Marchesa Melibea. Neben der schon erwähnten Edyta Piasecka war auch die Corinna der Premiere – Anna Cymmerman von der Oper in Lodz, ebenfalls Hausdebut – sehr hörenswert, – ein schönstimmiger klarer Sopran mit der Fähigkeit zu guten Verzierungen.

Die Besetzung der Rolle der Madama Cortese war leider nicht so geglückt, die Sängerin der Premiere klang etwas hart und die Sängerin der zweiten Vorstellung hatte hörbare technische Grenzen, ebenso wie die Corinna der zweiten Aufführung. Die Bässe und Baritone waren Sänger der Opera Narodowa und boten einheitlich gute Leistungen. Den Lord Sidney sang der – aus Bad Wildbad und Pesaro bekannte – Wojciech Gierlach. Jaroslaw Brek war Don Profondo, Andrzej Witlewski sang den Barone di Trombonok, Adam Kruszewski bzw. – in der zweiten Vorstellung – Mariusz Godlewski sangen den Don Alvaro.

Maestro Zedda stand somit auch in Warschau ein im Großen und Ganzen gutes bis sehr gutes Ensemble zur Verfügung, und unter seinem liebevollen, schwungvollen und sängerfreundlichen Dirigat wurde es eine mitreißende, vom Publikum im ausverkauften Haus (fast 2000 Plätze) bejubelte Aufführung.Nun aber zurück zur Inszenierung. Wenn ich mir einige ironische Anmerkungen zum Geschehensablauf erlaube, möchte ich das keinesfalls dahingehend verstanden wissen, dass ich zum Libretto nicht genau passende Verfremdungen als störend empfunden hätte. Im Gegenteil: ich fand das sehr amüsant und fantasieanregend.




Titelbild des Programmhefts

Auch in dieser Inszenierung löst natürlich die Mitteilung, dass keine Pferde aufzutreiben sind, allgemeine Verzweiflung aus, – nicht mal das geht also, aber es wäre ja ohnehin mit Pferden nicht zu schaffen gewesen, und so beschließt man, die Reise zu verschieben. Das Gepäck wird zusammengerafft, der Vorhang fällt, und eigentlich wäre zu erwarten, dass man zum Feiern ins Hotel zurückkehrt. Irrtum! Der Vorhang öffnet sich, man ist immer noch im Wartesaal, das Gepäck ist nun in einer Ecke gestapelt, und die Zwischenzeit wurde offensichtlich zum Umziehen für das Fest benutzt. Nach und nach – die Umkleidemöglichkeiten in einem Bahnhof sind ja wohl auch etwas beschränkt – erscheinen alle wieder; besonders auffallend: die attraktive Contessa di Folleville in einer wirklich hinreißenden roten Abendrobe mit Riesenschleppe, Barone di Trombonok in einer knallbunten Operettenuniform mit viel Glitzergold.

Vorher haben aber noch der Conte di Libenskof und die Marchesa Melibea ihre private Situation zu klären, – das Duett war der Höhepunkt eines großen Abends. Blake und Podles waren stimmlich in Höchstform und sehr spielfreudig, den Koloraturenstreit absolvierte die Podles auf dem Knie von Blake, und schließlich lagen beide – sich umarmend und strampelnd – auf der harten Wartesaalbank, wo sie während des frenetischen Beifalls recht lange ausharren mussten.

Zum Finale verschwindet dann die Bahnhofswelt , – die Wände in den Bühnenhimmel und der Wartesaal auf die Seitenbühnen. Und während das Thema für Corinna ausgelost wird, schwebt von oben herab ein riesiger Vogel mit einem vollgetakelten Dreimaster auf dem Rücken. Von der Hinterbühne schiebt sich langsam eine „Gegend mit Eisenbahnschienen“ nach vorne, die Schienen sind allerdings gen Himmel gebogen. Corinna erscheint als geflügelte griechische Göttin (oder doch als Engel?) und singt ihr wunderschönes Improvviso. Der Vogel verschwindet wieder nach oben, und herab schweben nun auf Rot geschaltete Haltesignale, die auch beim Fallen des Schlussvorhangs keine freie Fahrt geben.

Aus dem Programmheft

Am Schluss gab es dann jede Menge Blumen für die Mitwirkenden, der riesige Blumenkorb für Maestro Zedda war nicht viel kleiner als er selbst. Ein Herr – ich nehme an, der Intendant des Hauses – hielt eine Ansprache, dann erschien der polnische Kulturminister und heftete Maestro Zedda einen Orden o.ä. ans Revers [es handelte sich dabei um die höchste kulturelle Auszeichnung Polens, Anm. d. R.] . Das Publikum erhobsich, und das Orchester spielte einen Tusch. Herzlichen Glückwunsch, Maestro Zedda!

Fazit: Eine witzige und fantasievolle Inszenierung (von Tomasz Konina) mit einem grandiosen surrealistischen Schlussbild (und ein neues Kapitel zum Thema „Rossini und die Eisenbahn“). Zudem die erfreuliche Feststellung: In Polen versteht man, auch Künstler der Oper zu ehren! Wie ich der Website der Opera Narodowa entnommen habe, hat am 5. Mai 2003 auch Ewa Podles eine bedeutende polnische Auszeichnung erhalten: Das Goldene Zepter.

Besuchte Vorstellungen: 6. April (Premiere) und 9. April 2003

Beitrag für das Mitteilungsblatt der DRG Nr. 28 (Juni 2003)

siehe auch: Rossini und die Eisenbahn