Der Zug nach Reims geht um 22:59...
... so steht es groß auf der Anzeigetafel, wenn sich der Vorhang im Teatr Wielki – Opera Narodowa – in Warschau zur polnischen Erstaufführung von Rossinis "Il viaggio a Reims" unter der musikalischen Leitung von Maestro Zedda öffnet.
Die Reisegesellschaft hat sich im nüchternen Wartesaal eines heutigen und – den Aufschriften nach zu urteilen – polnischen Bahnhofs eingefunden. Ist so ja auch ein weiter Weg nach Reims! Der Ausblick auf die Gleise zeigt, dass sich rein gar nichts tut. Das hat eigentlich noch nichts zu sagen, die Bahnhofsuhr zeigt die wirkliche Uhrzeit an, es ist erst 19:00 Uhr und die Vorstellung ist schließlich auch vor 22:59 zu Ende, – aber da wusste man dann, dass es bei dem Zustand der Schienen mit der Abreise wirklich nicht klappen konnte. Aber schön der Reihe nach!
Sitzen müssen die Reisenden auf
schlichten Holzbänken. Das Gepäck türmt sich, auch eine Harfe –
(noch) in Schutzhülle – führt ein Reisender mit sich. Man
blättert in einem TUI-Katalog, auf einem Fernseher laufen Filme –
z. B. über ferne Reiseziele und über Fußballspiele –, beim Gran
Pezzo Concertato ist dann dort auch Maestro Alberto Zedda beim Dirigieren zu
beobachten. Der Conte di Libenskof (Rockwell Blake) – schick
gekleidet in langem schwarzen Ledermantel und Lederhose – nimmt
gelangweilt einen Drink an der Bar, wo Madama Cortese ihres Amtes
waltet. Aus einem Gepäckstück wird ein – aus unerklärlichen
Gründen total zerfetztes – rotes Abendkleid präsentiert, – der
dramaturgisch notwendige Anlass zu dem Verzweiflungsausbruch der
Contesse di Folleville, hinreißend gesungen und gespielt von der
polnischen Sängerin Edyta Piasecka. Diese Sängerin von der Oper in
Krakau, die mit der Folleville ihr Debüt an der Opera Narodowa gab,
war für mich die Entdeckung des Abends. Sie sang ausdrucksstark mit
runder und warmtimbrierter Stimme, geläufigen Koloraturen und sehr
gekonnten Verzierungen. Im „Partir, o ciel“ waren die fallenden
Koloraturläufe nicht einfach nur technisch gut gelungene
Koloraturen, sondern sie klangen – und zwar ohne aufgesetzte
nichtmusikalische Effekte und mit der Unterstützung durch die
raffinierte Tempowahl Zeddas – wie tief empfundene Klageseufzer und
wirkten in dieser Situation aus sich heraus einfach komisch; ich sah
Rossini – ironisch zwinkernd – vor mir!
Die Besetzung bestand – mit
Ausnahme von Rockwell Blake, der den Libenskof mit der bei ihm
gewohnten Raffinesse sang, und José Manuel Zapata, der einen
außerordentlich schönstimmigen und stilvollen Cavalier Belfiore
sang, – aus polnischen Sängerinnen und Sängern, angeführt von
der – wie immer atemberaubenden – Ewa Podles als Marchesa
Melibea. Neben der schon erwähnten Edyta Piasecka war auch die
Corinna der Premiere – Anna Cymmerman von der Oper in Lodz,
ebenfalls Hausdebut – sehr hörenswert, – ein schönstimmiger
klarer Sopran mit der Fähigkeit zu guten Verzierungen.
Die Besetzung der Rolle der Madama
Cortese war leider nicht so geglückt, die Sängerin der Premiere
klang etwas hart und die Sängerin der zweiten Vorstellung hatte
hörbare technische Grenzen, ebenso wie die Corinna der zweiten
Aufführung. Die Bässe und Baritone waren Sänger der Opera Narodowa
und boten einheitlich gute Leistungen. Den Lord Sidney sang der –
aus Bad Wildbad und Pesaro bekannte – Wojciech Gierlach. Jaroslaw
Brek war Don Profondo, Andrzej Witlewski sang den Barone di
Trombonok, Adam Kruszewski bzw. – in der zweiten Vorstellung –
Mariusz Godlewski sangen den Don Alvaro.
Maestro Zedda stand somit auch in Warschau ein im Großen und Ganzen gutes bis sehr gutes Ensemble zur Verfügung, und unter seinem liebevollen, schwungvollen und sängerfreundlichen Dirigat wurde es eine mitreißende, vom Publikum im ausverkauften Haus (fast 2000 Plätze) bejubelte Aufführung.Nun aber zurück zur Inszenierung. Wenn ich mir einige ironische Anmerkungen zum Geschehensablauf erlaube, möchte ich das keinesfalls dahingehend verstanden wissen, dass ich zum Libretto nicht genau passende Verfremdungen als störend empfunden hätte. Im Gegenteil: ich fand das sehr amüsant und fantasieanregend.
Maestro Zedda stand somit auch in Warschau ein im Großen und Ganzen gutes bis sehr gutes Ensemble zur Verfügung, und unter seinem liebevollen, schwungvollen und sängerfreundlichen Dirigat wurde es eine mitreißende, vom Publikum im ausverkauften Haus (fast 2000 Plätze) bejubelte Aufführung.Nun aber zurück zur Inszenierung. Wenn ich mir einige ironische Anmerkungen zum Geschehensablauf erlaube, möchte ich das keinesfalls dahingehend verstanden wissen, dass ich zum Libretto nicht genau passende Verfremdungen als störend empfunden hätte. Im Gegenteil: ich fand das sehr amüsant und fantasieanregend.
Titelbild des Programmhefts
|
Auch in dieser Inszenierung löst
natürlich die Mitteilung, dass keine Pferde aufzutreiben sind,
allgemeine Verzweiflung aus, – nicht mal das geht also, aber es
wäre ja ohnehin mit Pferden nicht zu schaffen gewesen, und so
beschließt man, die Reise zu verschieben. Das Gepäck wird
zusammengerafft, der Vorhang fällt, und eigentlich wäre zu
erwarten, dass man zum Feiern ins Hotel zurückkehrt. Irrtum! Der
Vorhang öffnet sich, man ist immer noch im Wartesaal, das Gepäck
ist nun in einer Ecke gestapelt, und die Zwischenzeit wurde
offensichtlich zum Umziehen für das Fest benutzt. Nach und nach –
die Umkleidemöglichkeiten in einem Bahnhof sind ja wohl auch etwas
beschränkt – erscheinen alle wieder; besonders auffallend: die
attraktive Contessa di Folleville in einer wirklich hinreißenden
roten Abendrobe mit Riesenschleppe, Barone di Trombonok in einer
knallbunten Operettenuniform mit viel Glitzergold.
Vorher haben aber noch der Conte di
Libenskof und die Marchesa Melibea ihre private Situation zu klären,
– das Duett war der Höhepunkt eines großen Abends. Blake und
Podles waren stimmlich in Höchstform und sehr spielfreudig, den
Koloraturenstreit absolvierte die Podles auf dem Knie von Blake, und
schließlich lagen beide – sich umarmend und strampelnd – auf der
harten Wartesaalbank, wo sie während des frenetischen Beifalls recht
lange ausharren mussten.
Zum Finale verschwindet dann die
Bahnhofswelt , – die Wände in den Bühnenhimmel und der Wartesaal
auf die Seitenbühnen. Und während das Thema für Corinna ausgelost
wird, schwebt von oben herab ein riesiger Vogel mit einem
vollgetakelten Dreimaster auf dem Rücken. Von der Hinterbühne
schiebt sich langsam eine „Gegend mit Eisenbahnschienen“ nach
vorne, die Schienen sind allerdings gen Himmel gebogen. Corinna
erscheint als geflügelte griechische Göttin (oder doch als Engel?)
und singt ihr wunderschönes Improvviso. Der Vogel verschwindet
wieder nach oben, und herab schweben nun auf Rot geschaltete
Haltesignale, die auch beim Fallen des Schlussvorhangs keine freie
Fahrt geben.
Aus dem Programmheft |
Am Schluss gab es dann jede Menge Blumen für die Mitwirkenden, der riesige Blumenkorb für Maestro Zedda war nicht viel kleiner als er selbst. Ein Herr – ich nehme an, der Intendant des Hauses – hielt eine Ansprache, dann erschien der polnische Kulturminister und heftete Maestro Zedda einen Orden o.ä. ans Revers [es handelte sich dabei um die höchste kulturelle Auszeichnung Polens, Anm. d. R.] . Das Publikum erhobsich, und das Orchester spielte einen Tusch. Herzlichen Glückwunsch, Maestro Zedda!
Fazit: Eine witzige und
fantasievolle Inszenierung (von Tomasz Konina) mit einem grandiosen
surrealistischen Schlussbild (und ein neues Kapitel zum Thema
„Rossini und die Eisenbahn“). Zudem die erfreuliche Feststellung:
In Polen versteht man, auch Künstler der Oper zu ehren! Wie ich der
Website der Opera Narodowa entnommen habe, hat am 5. Mai 2003 auch
Ewa Podles eine bedeutende polnische Auszeichnung erhalten: Das
Goldene Zepter.
Besuchte Vorstellungen: 6. April (Premiere) und 9. April 2003
Beitrag für das Mitteilungsblatt der DRG Nr. 28 (Juni 2003)
siehe auch: Rossini und die Eisenbahn