3. Oktober 2012

"Rossini Opera Festival" 2012 in Pesaro: Matilde di Shabran - Ciro in Babilonia - Il signor Bruschino / Ein Bericht von Reto Müller (DRG)


Ich freue mich, diesen ausführlichen Bericht über das diesjährige "Rossini Opera Festival" in Pesaro, den Reto Müller für das Mitteilungsblatt der Deutschen Rossini Gesellschaft geschrieben hat, in meinem Blog veröffentlichen und damit über den Mitgliederkreis hinaus einer breiteren Leserschaft zugänglich machen zu können. Reto Müller ist seit 1996 Geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft und seit 2010 gemäß seiner Homepage selbständig als "Vollzeit-Rossinianer". Seit 1990 ist er beratender Mitarbeiter beim Festival "Rossini in Wildbad", ferner seit 1992 freier Mitarbeiter bei der Fondazione Rossini und seit 2011 dort Mitglied und Sekretär des Wissenschaftlichen Beirats.

Von den besprochenen Festivalproduktionen gibt es bei YouTube diverse Videos, von Ciro in Babilonia sogar den gesamten Mitschnitt der von RAI 5 live übertragenen Premiere und von Matilde di Shabran die Gesamtaufnahme der Aufführung von 2004. Links zu ausgewählten Videos hier im Blog im Rossini-Opernführer.
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Das 33. Rossini Opera Festival in Pesaro

 
Große Vorfreude herrschte in Hinblick auf Matilde di Shabran, die 2004 in der Inszenierung von Mario Martone eine der besten Produktionen beim ROF überhaupt war (meine begeisterte Rezension erschien in MB Nr. 32, S. 9-10). Etwas skeptisch blickte man der Verlegung vom Teatro Rossini in die Adriatic Arena entgegen, aber das ansprechende Bühnenbild gewann vielleicht noch dadurch, dass die beiden Wendeltreppen in der Mitte auf der viel größeren Bühne weniger wuchtig wirkten. Die herrlichen, epochengerechten Kostüme und die stets feinsinnige Personenführung verfehlten auch hier nicht ihre Wirkung. Ganz zu schweigen von der Musik, die einen wieder mitriss mit ihrer Wucht und Fülle, die dieses verkannte, über Jahrzehnte geschmähte und mit Häme überzogene Werk als schöpferische Offenbarung ausweisen. Alberto Zedda hat in einer Pressedokumentation daran erinnert, dass 2004 nicht etwa eine Auftrittsarie, sondern ein Ensemble einen nicht enden wollenden Applaus hervorgerufen hat – jenes total verrückte Quintett, in dem Corradino der ersten Wahnsinnsattacke der unheilbaren Krankheit „Liebe“ verfällt. Marco Beghelli hat in einem Einführungsvortrag schön aufgezeigt, wie Rossini das Motiv der Cabaletta nicht wie üblich vier Mal hintereinander wiederholt, sondern es bis zum Exzess ganze sechzehn Mal wie Gewehrsalven repetiert. Mein Freund Bruno, ein „tifoso“ (Fan), der alljährlich jede, aber wirklich jede einzelne Aufführung des ROF sieht, kam einmal mehr kopfschüttelnd aus dem Theater und sagte: „Rossini non è un genio, è un folle!“. Und am Schluss steht dieses herrliche Rondo der Matilde, das zugleich den Triumph der Liebe und des Friedens zelebriert und den Intendanten Mariotti Lügen straft, der bei jeder Gelegenheit behauptet, das Publikum käme nach Pesaro nicht um Bestätigungen, sondern Überraschungen oder gar Provokationen zu finden. Der totale und ungebrochene Erfolg dieser absolut perfekten Inszenierung zeigt, wonach das Publikum lechzt, nämlich nach dem, was jeder Mensch will: Frieden, Glück und Liebe, die uns im Theater – und wenn auch nur illusorisch – dem rüden Alltag entrücken, und sicher nicht eine Spiegelung all der Probleme und Fragen, mit denen wir ohnehin konfrontiert sind.

Zum großen Erfolg der Aufführung hat natürlich wiederum Juan Diego Flórez beigetragen, von dem man glaubt, dass er als einziger diese Rolle adäquat interpretieren kann. Hat er seine fulminante Leistung vom letzten Mal wieder erreicht oder hat er sie gar übertroffen? Es ist müßig, in dieser Sphäre, die sich dem normalen Erfassungsvermögen entzieht, solche Spitzfindigkeiten beantworten zu wollen. Sein totaler schauspielerischer und vokaler Einsatz in dieser ständig präsenten und doch mit keiner einzigen Arie versehenen Partie ist aberwitzig, und als einzigen Vergleich kann ich nur auf das Jahr 1822 zurückgreifen, als eine Wiener Zeitung über Giovanni David von „einer Leichtigkeit und Stärke, als ob es ihn nicht die geringste Anstrengung kostete“ sprach, von seinen klaren und reinen Tönen, seinen deutlichen und geregelten Verzierungen, seinen vortrefflichen Trillern; und schon als Flórez bei seinem ersten Auftritt die berühmte Treppe herunterkam, dachte ich an den Satz: „Wie ein zweiter Cäsar scheint sein Erscheinen schon den Sieg zu verkünden, denn nichts misslingt ihm, so grandios das Wagstück auch sein mag“. Eine Idealbesetzung fand auch die Matilde in Olga Peretyatko, die der Rolle die nötige erotische Ausstrahlung, Koketterie und Witz verlieh und die genauso über die dramatische Ausdrucksstärke wie über die lyrische Berücktheit verfügt. Ihr Schlussrondo, in dem der Regisseur in einem seiner schönsten Einfälle Matilde in die Rolle der Poetessa schlüpfen lässt und ihre Verse über die Moral der Liebe zu dem Sonett werden, das sie zuvor von dem Dichter Isidoro gefordert hat, war von einer Poesie, die der Oper nach all ihrer lawinenartigen Wucht eine magische Idylle verlieh. Schade nur, dass die Sängerin in der anschließenden Wiederholung ihre Variationen in ein paar geschmacklose Verzierungen abgleiten ließ.

Auch die ganze übrige Besetzung war exzellent. Mir hat der Edoardo der jungen Anna Goryachova ausgezeichnet gefallen, vor allem weil sie mit ihrem schönen Mezzosopran so gut durchdrang und ihre Koloraturen so sauber sang. Freilich war im Verlauf der Aufführungen eine gewisse Anstrengung nicht zu überhören – es ist die einzige Partie in dieser Oper, die gleich zwei große, sehr virtuose Arien aufweist. Die zweite stellt auch fast unmögliche Anforderungen an den Hornisten (Stefano Pignatelli), der seine „Koloraturpassagen“ bei der Hauptprobe traumwandlerisch, bei der Premiere (dem Vernehmen nach) saumäßig und ansonsten sehr artig ablieferte. Anders als Marco Vinco vor acht Jahren, verlieh Nicola Alaimo der Rolle des Aliprando in jeder Hinsicht das nötige Gewicht, während der Ginardo mit Simon Orfila ebenfalls exzellent besetzt war. Paolo Bordogna war ein achtbarer, witziger Isidoro, aber die Erinnerung an die Ausnahme-Buffi Bruno Praticò (1996) und Bruno de Simone (2004) konnte er nicht löschen. Chiara Chialli, die ich 2004 in der Rolle der eifersüchtigen und intriganten Contessa d’Arco „zum Krepieren komisch fand“, schien mir dieses Mal weniger bemerkenswert, aber hier kann gut die viel weitere Distanz zur Bühne nachteilig gewirkt haben. Giorgio Misseri war der deutlich aus dem Chor des Teatro Comunale di Bologna herauszuhörende Egoldo. Eine besondere Erwähnung verdient Marco Filippo Romano, der als Raimondo freilich nichts als ein paar Rezitative zu sagen hatte. Man fragt sich, weshalb Pesaro damit zuwartet, einem solchen begnadeten Talent eine adäquate Rolle zu geben!

Michele Mariotti führte sicher durch diese anspruchsvolle Partitur, was alleine schon eine riesige Herausforderung und Leistung für einen jungen Dirigenten ist. Bei seiner Interpretation scheint er mehr Wert auf dynamische Unterschiede (laut-leise) denn auf Tempoveränderungen (schnell-langsam) zu legen; agogisch könnte er mehr Spannung erzeugen. So wirkte die langsame Einleitung der Ouvertüre sehr träge. Insgesamt blieb mir das Dirigat von Riccardo Frizza als spritziger („più frizzante“) in Erinnerung, wenn das Wortspiel erlaubt ist.

Als Neuproduktion war Ciro in Babilonia angesagt, der zum ersten Mal beim ROF aufgeführt wurde und den Daniele Carnini und Ilaria Narici von der Fondazione Rossini in einer Revision nach den Quellen vorbereitet haben. Ciro ist eine der Opern, von denen das Autograph Rossinis als verloren gilt, weshalb es besonders schwierig ist, eine kritische Edition zu erstellen – es müssen alle Sekundärquellen (handschriftliche Partiturabschriften) analysiert werden, um dem Willen des Komponisten möglichst nahe zu kommen.

Mit etwas Skepsis erwartete man die Inszenierung von David Livermore, dessen letztjähriger Demetrio e Polibio mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde. Die Entwarnung kam aber schon Anfang Juli aus Amerika. Dort wurde nämlich die Produktion mit der weitgehend gleichen Besetzung voraufgeführt, worauf sich das ROF eingelassen hat, um nicht auf Ewa Podles verzichten zu müssen. Sie war in der für die Proben in Pesaro vorgesehenen Zeit bei „Bel Canto at Caramoor“ (in Katonah, Staat New York) engagiert, und statt sie freizugeben, machte dessen Leiter Will Crutchfield den Vorschlag einer Co-Produktion. Die Presseberichte waren ziemlich enthusiastisch und verrieten bereits, dass Livermore die Zeit der Stummfilme als Szenerie ausgewählt hatte. Die Handlung fängt während der Ouvertüre in einem Kino an, wo das Publikum erwartungsvoll dem neuen Film entgegensieht, der dann mit vielen Bildstörungen und einigen Pannen abläuft. Gezeigt wird die alte biblische Geschichte rund um Belsazars Festmahl mit dem „Menetekel“. Die Zuschauer tauchen aber als Chor in die Filmwelt ein, und bald ist nicht mehr klar, ob man einem Film beiwohnt oder seiner Produktion. Ein Kind wechselt ganz die Seite und wird vom Zuschauer zum Akteur, nämlich zu Cambise, dem kleinen Sohn Amiras und Ciros, der vom Libretto explizit als stumme Rolle vorgesehen ist („Bambino che non parla“: wäre es vermessen zu vermuten, dass dem Regisseur die Idee seiner Stummfilm-Inszenierung von diesem kleinen Hinweis gekommen ist?!). Es wird nie ganz klar, was eigentlich dargestellt wird – vielleicht einfach eine Fiktion, bei der die Kinobesucher so sehr in die Filmgeschichte involviert sind, dass für uns eine Oper daraus wird (denn eines ist klar: eine Oper selbst wäre denkbar ungeeignet für einen Stummfilm!). Das Erstaunliche war, dass das Ganze funktionierte und vom Publikum sehr gut aufgenommen wurde. Und noch erstaunlicher war, dass die dargestellte Handlung in total klassischer Manier aufgeführt wurde und wie eine Inszenierung aus den 1860er-Jahren wirkte; die assyrischen Schwarz-Weiß-Kostüme erinnerten an jene Fotos und Bilder, die die Schwestern Marchisio in der Semiramide zeigen. Im zweiten Akt hatte es viele Szenen, in denen der „Kinorahmen“ ganz verschwand und nur noch die klassische Inszenierung übrig blieb. Diese bediente sich freilich eines modernen Mittels, der Videoprojektion, und so entstand vor den Augen der Zuschauer das Gefängnis des Ciro, oder Belsazar rannte in den endlosen Thronsälen um sein Leben. Einiges war allerdings bewusst überzeichnet, angefangen von den Kostümen, den angeklebten Bärten, den Kopfbedeckungen in Form von Vogelkäfigen etc., über die Einblendung von Mondscheinromantik oder die Schlussszene (s. unten), mit der Livermore das Ganze vielleicht aus Angst vor dem eigenen Mut etwas ins Karikative zog.

In dieser Inszenierung zeigte sich die Oper, die schon als „seelenvoll aber körperlos“ beschrieben wurde, konsistenter als erwartet. Sie erhielt durch ihre szenische Uniformität eine gewisse dramaturgische Stringenz, wodurch die einzelnen musikalischen Perlen, die entlang des ganzen Verlaufs verteilt sind, erst recht zur Geltung kamen. Neben vielen berückenden, lyrischen Melodien und reichhaltigen virtuosen Stücken fallen so originelle Solobegleitungen (alle hervorragend gespielt durch die ersten Pulte des Orchestra del Teatro Comunale di Bologna) durch Horn (Arie Arbace), Fagott (Arie Amira im 1. Akt), Violine (Arie Amira im 2. Akt) und – selten! – Bratsche (Arie Argene) auf, ganz zu schweigen von der Vokallinie auf einen einzigen Ton in dieser letzteren Arie.

Will Crutchfield, der in Amerika als großer Belcanto-Spezialist gilt und auch bei der Accademia Rossiniana von Alberto Zedda in Pesaro schon öfters unterrichtet hat, hat sich mit großem Engagement ins Zeug gelegt und nicht nur die ganze Oper auswendig dirigiert, sondern auch die Rezitative am Cembalo selber – ebenfalls ohne Noten! – begleitet. Während sein professoral-symmetrischer Gestus als Dirigent (ohne Stab) zu einem exzellenten musikalischen Ergebnis führte – das nochmalige Anhören der Aufnahme bestätigt diesen Eindruck! –, gestaltete er die Rezitative in einer rigiden Weise, die schlicht entnervend war. An dieser Stelle sei auch einmal gesagt, dass der vor vielen Jahren in Pesaro und weitherum eingeführte Standard des „Basso continuo“ (Generalbass oder ununterbrochener Bass) in den Secco-Rezitativen, also die Begleitung durch Violoncello und Kontrabass nebst dem Cembalo, ein unnötiger Originalklang-Fetischismus ist, der sich schlecht mit dem Klang der modernen Orchester verträgt und einen unangenehmen Kontrast zwischen Musiknummern und Rezitativen schafft, während sich ein brillantes Cembalo heute viel „natürlicher“ ausnimmt und auch eine flexiblere Gestaltung der Rezitative zulässt.

Ewa Podles hat vor ein paar Jahren in einem Interview erklärt, dass sie keine Rossini-Rollen mehr singen werde. Spitze Zungen behaupteten nach ihrem Ciro, dass sie Wort gehalten habe… Obwohl sie ihren Zenit als große Rossini-Contraltistin (eine der ganz wenigen, die es überhaupt gab: fast alle Sängerinnen, die heute dieses Repertoire singen, sind normale Mezzosoprane) längst überschritten hat und ihre Registerwechsel und ein gewisses „Geknödel“ mehr als je hervortraten, vermochte sie immer noch mit ihrer besonderen Tiefe und Stimmfärbung aufzufallen. Mit gut platzierten, lang ausgehaltenen Schlusstönen gelang es ihr nach wie vor, das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Die Art, wie sie sich bewegte, und der Wichtelbart, der ihr verpasst wurde, trugen freilich einiges zum Karikativen dieser Inszenierung bei.

Neben der Podles bildeten zwei Wildbader Entdeckungen das Hauptrollen-Trio. Jessica Pratt konnte an ihren Erfolg als Adelaide vom letztjährigen ROF anknüpfen. Wie diese handelt es sich auch bei Amira um eine Partie, die Rossini für die Sopranistin Elisabetta Manfredini geschrieben hatte und der australischen Sängerin perfekt liegt. Vor allem in ihren beiden Arien konnte sie mit schönem Legato, dramatischen Ausbrüchen und perlenden Koloraturen brillieren. Michael Spyres gab sein längst überfälliges Debüt in Pesaro, das seinem vorausgeeilten Ruf als neue große Rossini-Hoffnung voll gerecht wurde, auch wenn die Partie des Baldassare nicht so geeignet ist wie etwa die Nozzari-Rollen, um sein ganzes Können unter Beweis zu stellen. Abgesehen davon verlor er als Darsteller wegen der übertriebenen Verkleidung mit einem wilden Neptun-Bart etwas an Profil. Ausgezeichnet auch die beiden Bässe, Mirco Palazzi als Zambri und Raffaele Costantini als Daniello, sowie Tenor Robert McPherson als Arbace, während Carmen Romeu allein schon wegen ihrer viel erwarteten „eintönigen“ Arie Applaus einheimste (auch wenn ich nicht überzeugt war, dass das ihr bester Ton war).

In zwei Dingen tolerierte das ROF, dass sich der Regisseur über die üblichen Parameter des Festivals hinwegsetzte. Er wollte keine Übertitel, weil er ab und zu ein paar Szenenbeschreibungen einblenden ließ. Diese waren aber in keiner Weise dazu geeignet, das Textverständnis zu fördern, wie es heute dank der Übertitel zum erwartungsgemäßen Standard gehört. Und schon tauchten wieder die Lämpchen und Lampen im Saal auf, mit denen die Leute den Text im Programmheft lasen… Geradezu grotesk war die Herbeiführung des Finales. Livermore ließ Baldassare während der Gran Scena Ciros von zwei Skeletten in den Orkus werfen, womit Cyrus nicht mit göttlicher, sondern mit höllischer Hilfe zum Sieger wird. Das Kampfgetümmel, das in der Partitur im Rezitativ nach Ciros Arie zum glücklichen Ende führt, wurde einfach weggelassen (Szenen 13, 14, 15 und Teile von Szene 16). Maestro Crutchfield machte sich zum Komplizen dieser Machenschaft, indem er erklärte, dass es sich ja nicht um „Musik“, sondern „nur um Rezitative“ handelt. Dieses Vorgehen ist nicht tolerabel für ein Festival, das sich den „religiösen Respekt vor der authentischen Partitur“ (Worte von Gianfranco Mariotti, in Note per la presentazione alla stampa della XXXIII Edizione, ROF 2012) auf die Fahne geschrieben hat.

Wenn ein Regisseurenkollektiv mit dem subversiven Titel „Teatro sotteraneo“ (Untergrundtheater) erstmals eine Oper inszeniert, muss man sich auf das Schlimmste gefasst machen. Ihr Signor Bruschino erwies sich aber als harmloses Theater im Theater. Eigentlich ist die Idee ganz witzig, dass es einen Freizeitpark gibt, der „Rossiniland“ heißt und in dem an verschiedenen Schauplätzen Opern von Rossini gespielt werden. Dort, wo im Europapark vielleicht die Achterbahn stehen würde, sehen wir die Kulisse, in der Il signor Bruschino gespielt wird. Das Publikum schaut zu, wie die Sänger die Oper spielen, und wartet erwartungsvoll auf den Running Gag des „Uh che caldo“. Die Darbietung wird in klassischen, wenngleich etwas kitschigen Kostümen gespielt (die Kostüme stammten, wie auch das Bühnenbild, von den Absolventen der Accademia di Belle Arti di Urbino). Einige Szenen finden eine Entsprechung in den Parkbesuchern, etwa wenn ein Liebespaar während des Duetts Sofia-Gaudenzio herumschmust. Einmal kam Gaudenzio auf einem Elektroroller (Segway) daher, was mich ein bisschen an eine Cenerentola-Inszenierung in Augsburg erinnerte, in der Dandini auf Inlineskates herumkurvte. Und in der Tat war das Ganze eigentlich nicht viel mehr als eine Inszenierung, wie sie auf deutschen Provinzbühnen gang und gäbe ist.

Entsprechend war auch das gesangliche Niveau. David Alegret war seiner Partie als Florville gut gewachsen, störend war aber seine etwas quäkende, nasale Stimme. Carlo Lepore ist ein sympathischer und guter Darsteller, aber die Stimme ist zu wenig brillant für die Buffo-Rolle des Gaudenzio. Roberto De Candia singt als Bruschino padre korrekt, vermag aber seinem Gesang keinen charakteristischen Stempel aufzudrücken. Einen guten Eindruck hinterließen in den kleinen Rollen Vincenzo Andrea Bonsignore als Filiberto und Chiara Amarù als Marianna. Als totale Fehlbesetzung erwies sich Maria Aleida, die letztes Jahr in Martina Franca in Aureliano in Palmira Furore gemacht hat. Zenobia benötigt ein hohes Register, das ihr gut liegt, und auch hier schaffte sie als Sofia die hohen Koloraturpassagen mühelos, aber die Mittellage ist völlig inkonsistent und wirkte ausgesprochen bemüht. Daniele Rustioni gilt als neuer Shooting Star in der Dirigentenszene und sorgte für eine alerte Leitung an der Spitze des Orchestra Sinfonica G. Rossini, das sich neben dem Hauptorchester aus Bologna wiederum ehrenvoll behaupten konnte.

Insgesamt war es also ein „harmonisches“ Festival, bei dem einem Provokationen und entsprechende Polemiken wie beim letztjährigen Mosè in Egitto erspart blieben. Interessant war, dass es neben der kompromisslos „klassischen“ Inszenierung der Matilde zwei neue Produktionen gab, in denen in einem werkfremden Rahmen (Stummfilmkino, Rossiniland) eine im Prinzip klassische Inszenierung gezeigt wurde. Ist das ein (hoffnungsvoller) Hinweis darauf, dass die Regisseure langsam kapieren, dass das Publikum wieder vermehrt schönes Theater erleben will, aber noch einen „Vorwand“ brauchen, bevor sie den konsequenten Schritt eines Martone wagen?

Reto Müller

Besuchte Aufführungen:
Halböffentliche Haupt- und Generalproben und 13., 14. und 17. August 2012
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Quelle: Mitteilungsblatt der DRG Nr. 57 (September 2012)
Fotos: ROF