Es war wirklich eine sehr lohnenswerte Entdeckung und trotz der ungewohnten Länge von rund 3 ½ Stunden ein kurzweiliges Vergnügen, den so genannten „Barbiere di Siviglia“ in seiner vollständigen, von Alessandro De Marchi revidierten Urfassung zu hören, - nicht nur mit ungekürzten Rezitativen und natürlich der großen Arie des Conte Almaviva "Cessa di più resistere", sondern auch mit Verzierungen der Zeit, insbesondere denjenigen, die dem Almaviva der Uraufführung, Manuel Garcia Vater, zugeschrieben werden. Zu hören gab es auch die höchstwahrscheinlich von Rossini selbst stammende nachkomponierte Sopranarie ,,A se è ver", - zwar nicht konsequent, wenn man die Urfassung gibt, aber sehr schön anzuhören in der für Mezzosopran transponierten Fassung (die - neben weiteren Alternativarien, darunter noch einer zweiten für den Barbiere - auch von Marilyn Horne unter Zedda aufgenommen worden ist).
Auch die vielen ärgerlichen, in der Aufführungspraxis aber leider üblichen Striche wurden endlich wieder einmal aufgemacht, so im SchIussteiI des Duetts Almaviva-Figaro im ersten Akt, am Ende des Duetts Almaviva-Bartolo am Anfang des zweiten Akts, im Mittelteil der Musikstunden-Arie der Rosina und im Schlussteil des Terzetts Rosina-Figaro-Almaviva im zweiten Akt.
In dieser Fassung wird auch nachvollziehbar, warum der wahre Titelheld eben der Conte Almaviva ist und nicht der Komödiant Figaro. Saverio Lamacchia* hat in seinen Beiträgen in «La Gazzetta» 2003 und im Programmheft für die Wildbader Aufführung im Einzelnen überzeugend darauf hingewiesen, dass es stets einer Machtdemonstration des Conte bedarf - im ersten Akt gegenüber dem Polizeioffizier, im zweiten Akt in Form von Gewaltandrohung gegenüber Don Basilio - , um den von Figaro angezettelten Schwierigkeiten wieder zu entkommen. Auch die große Arie ist nicht lediglich ein musikalisches Bravourstück für den damaligen Superstar Garcia, sondern der Text zeigt deutlich, wer hier das Sagen hat. Und so ist es selbstverständlich auch der Conte, der im abschließenden Finaletto als ,,Sieger" das letzte Wort hat und die kunstvollsten Verzierungen singen darf. Dass allerdings auch heutzutage nicht einmal diese Fassung des Finalettos selbstverständlich ist, war auch noch 2003 an der Berliner Staatsoper Unter den Linden zu erleben, wo im Finaletto nur Figaro seine Strophe singt, - und das soll dann laut Programmzettel angeblich eine Aufführung nach der revidierten Fassung von Zedda sein!
Die Aufführung war szenisch eingerichtet von Jochen Schönleber/Ensemble, was heißt, dass in einem zwangslosen Arrangement die Mitwirkenden weitgehend spontan nach Situation und Bühnenerfahrung agierten. Während der Ouvertüre trennte man sich von dem Fernseher mit laufender Fußballübertragung und verteilte sich in der Szenerie mit ein paar runden Tischen (gut geeignet auch für die Ablage von Noten für den Ernstfall der ungewohnten Stellen) und einigen Stühlen. Für Figaro noch ein spanisches Wams, für Rosina Kamm und Schultertuch, - das reichte völlig als Rahmen für einen unterhaltsamen Spielablauf. Einbezogen war auch der Begleiter der Rezitative, Marco Bellei, dessen Cembalo mit auf der Bühne war.
Auch von den gesanglichen Leistungen her war Almaviva zu Recht der Titelheld. Giorgio Trucco, der relativ kurzfristig die Partie übernommen hatte und dem Vernehmen nach die große Arie hier erstmalig sang, besitzt eine schön timbrierte, volle und runde Stimme mit guter Technik, die ihm eine gute Linienführung, gestochen saubere Koloraturen, sichere und schöne Höhen, aber auch den Einsatz der voix mixte ermöglicht. Hinzu kamen sehr differenziert gestaltete Rezitative und ein rollengerecht dominantes Auftreten. Auch Agata Bienkowska erfreute als Rosina mit gelungenen Verzierungen und konnte insbesondere auch in der Zusatzarie ihr Können beweisen. Marian Pop konnte als Figaro mit eher zu kräftigem Bariton und großer Spielfreude auftrumpfen; dass er auch sängerisch differenzierter gestalten kann, weiß nur, wer im Solistenkonzert seine hinreißende Darbietung von Donizettis Mamma Agata erlebt hat.
Eine
ganz besondere Freude war der Bartolo von Renato Girolami mit schönem
rundem Bass. Die Arie des Bartolo kann man selten so gekonnt gesungen
hören; die schnellen Plapperpassagen, bei denen bei anderen
Rollenvertretern doch oft nur heiße Luft mit etwas Geräusch
rauskommt, bewältigte er mit voller Stimme und exaktester
Artikulation. Den Schwierigkeitsgrad dieser Arie kann man daran
ermessen, dass diese Arie früher des öfteren durch eine weniger
anspruchsvolle Arie von Pietro Romani ersetzt worden ist - zu
hören von Salvatore Baccaloni in der Gesamtaufnahme von 1929 -
oder sogar ganz weggelassen wurde, so in der russischen
Gesamtaufnahme von 1953. Auch Wojciech Adalbert Gierlach bot als
Basilio eine gesanglich saubere Leistung, auch wenn sein schöner
runder Bass nicht die für einen "colpo di cannone"
erforderliche Farbe hat.
Die
kleineren Rollen waren mit Tatjana Charalgina, die die Arie der Berta
mit hübschen Verzierungen sang, und mit Giovanni Bellavia gut
besetzt; beide hatten in den anderen Produktionen des Festivals
und bei Konzerten größere Möglichkeiten, ihr Können zu beweisen.
Der Kammerchor Ars Brunensis sang zuverlässig.
Spiritus Rector der Aufführung mit viel Freude an der Sache war Alessandro De Marchi, der guten Kontakt zu den Sängern hielt und der die Württembergische Philharmonie Reutlingen geschickt durch die diesem Orchester hörbar noch nicht so vertrauten diffizilen und temporeichen Gefilde einer Rossinischen Partitur führte. Interessant war die Aufstellung des Orchesters: alle Streicher links, alle Bläser rechts.
Das Publikum zeigte sich derart heftig begeistert, dass das Finaletto unter aktiver Beteiligung des Publikums wiederholt wurde, wobei De Marchi beim Refrain fröhlich die Einsätze zum rhythmischen Mitklatschen gab.
(Besuchte Aufführungen: 11. und 13. Juli 2004)
Spiritus Rector der Aufführung mit viel Freude an der Sache war Alessandro De Marchi, der guten Kontakt zu den Sängern hielt und der die Württembergische Philharmonie Reutlingen geschickt durch die diesem Orchester hörbar noch nicht so vertrauten diffizilen und temporeichen Gefilde einer Rossinischen Partitur führte. Interessant war die Aufstellung des Orchesters: alle Streicher links, alle Bläser rechts.
Das Publikum zeigte sich derart heftig begeistert, dass das Finaletto unter aktiver Beteiligung des Publikums wiederholt wurde, wobei De Marchi beim Refrain fröhlich die Einsätze zum rhythmischen Mitklatschen gab.
(Besuchte Aufführungen: 11. und 13. Juli 2004)
Mitteilungsblatt
der Deutschen Rossini Gesellschaft Nr. 32 (September 2004)
*Jetzt auch das Buch zu diesem Thema in deutscher Übersetzung: Saverio Lamacchia - Der wahre Figaro oder das falsche Faktotum