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"Illustrirte Zeitung", Leipzig, Erster Band, Juli bis Dezember 1843 - Seite 281
(mit Aufführungsrezension)
Eine "deutsche" Belcanto-Oper
Am morgigen Sonnabend, 1. August, sendet Deutschlandradio Kultur als Aufzeichnung vom diesjährigen Festival "Rossini in Wildbad" die Oper "Il vespro siciliano" von Peter Joseph von Lindpaintner, konzertant aufgeführt nach der Kritischen Ausgabe der Edition Nordstern, herausgegeben von Volker Tosta. Bereits beim Festival 2012 standen in einem Konzert zwei Stücke aus dieser Oper auf dem Programm und machten auf das ganze Werk neugieirig.
Das Belcanto-Festival "Rossini in Wildbad" bringt seit Jahren nicht nur Opern von Rossini zur Aufführung, sondern auch Werke anderer damaliger Komponisten, die zu ihrer Zeit erfolgreich und teils sogar sehr berühmt waren, dann aber in Vergessenheit gerieten und nun wieder - auch dank der zahlreichen auf CD veröffentlichten Mitschnitte - neu gehört und bewertet werden können (s. die Diskografie hier im Blog). Aus diesem schier unerschöpflichen Reservoir neu zu entdeckender Schätze ist dieses Jahr eine besondere Rarität hervorgeholt worden: Eine "deutsche" Belcanto-Oper, an der der Komponist sogar während eines Kuraufenthalts in Wildbad gearbeitet hat, nämlich "Die sizilianische Vesper" / "Il vespro siciliano" von Peter Joseph von Lindpaintner, als "Große heroische Oper mit Tanz in vier Abtheilungen" ein rund 3,5 Stunden langes Werk mit sechzehn Solistenpartien. Das Werk wurde - ausweislich des weiter unten abgebildeten Theaterzettels - am 10. Mai 1843 am Königlichen Hof-Theater in Stuttgart uraufgeführt und somit lange vor Verdis "Les Vêpres siciliennes" von 1855. Die Oper wurde auf ein deutsches Libretto komponiert, verfasst in wohlgesetzten Reimen. Und so fängt die Oper an: Wie funkelt im Pokale, / beim
lustgewürzten Mahle, / der goldene Rebensaft! / Lasst schäumen ihn
und fließen, / lasst ihn die Lust versüßen, / die uns dies Fest
verschafft! Aber sehr bald wurde in der Hoffnung auf eine internationale Verbreitung auch für eine italienische Version gesorgt, - von einer Übersetzung zu sprechen, wäre wohl nicht ganz zutreffend, da auch der italienische Text gereimt ist und somit notgedrungen oft sehr frei mit der Textvorlage umgeht, teils noch wesentlich freier, als die ersten Sätze belegen können: Ah, come il vino brilla / e nel
boccal scintilla, / delizia all’occhio e al cor. / Evviva il bello
rito; / chi mai dopo un convito / non l’ameria ognor! Die italienische Fassung wurde jetzt in Bad Wildbad aufgeführt,- wahrscheinlich überhaupt zum ersten Mal; für die Übertexte wurde der italienische Text möglichst wortgetreu neu übersetzt.,
Diese moderne Erstaufführung der italienischen Fassung stand übrigens laut Programmheft unter der Schirmherrschaft Seiner königlichen Hoheit Carl Herzog von Württemberg. Ich bin überrascht, dass es in Deutschland noch "Königliche Hoheiten" gibt...
Für Berichte über die Aufführungen in Bad Wildbad wird auf die Zusammenstellung in der Presseschau hier im Blog verwiesen.
Herr Volker Tosta hat sich als Herausgeber der Kritischen Ausgabe unter dem Titel "Ein starkes Stück Stuttgarter Operngeschichte - vollendet in Wildbad" eingehend mit Komponist und Werk befasst. Ich danke Herrn Tosta herzlich für die Gelegenheit, diese detaillierten und mit zahlreichen Anmerkungen versehenen Ausführungen, die in dieser Fülle den Rahmen eines Programmhefts oder eines CD-Booklets sicherlich sprengen würden, in meinem Blog zu veröffentlichen und somit einem über die Spezialisten hinausgehenden interessierten Publikum zugänglich zu machen, nicht zuletzt auch in Hinblick auf die zu erwartende Veröffentlichung auf CD. (esg)
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Volker Tosta:
Ein starkes Stück Stuttgarter
Operngeschichte – vollendet in Wildbad
Die sizilianische Vesper von Peter
Joseph von Lindpaintner
Der Komponist
Der 14. Februar 1844 ist ein großer
Tag im Leben des 1791 in Koblenz geborenen, königlich
württembergischen Kapellmeisters
Peter Joseph Lindpaintner. Genau 25 Jahre nach seinem Dienstantritt
im Jahr 1819 wird Lindpaintner mit dem "Ritterkreuz der
Württembergischen Krone" ausgezeichnet, mit dessen Verleihung
die Erhebung in den persönlichen Adelsstand verbunden ist. Damit
würdigt König Wilhelm I. die Verdienste Lindpaintners um die
Stuttgarter Hofoper, die dieser wieder auf das künstlerische Niveau
der legendären Zeit Jomellis (1753-1769) an der Hofbühne des
Herzogs Karl von Württemberg geführt hat.
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Lithographie von J. Kriehuber, Wien 1837 |
Insbesondere das Orchester entwickelt
er zu einem der führenden Klangkörper Deutschlands. Felix
Mendelssohn schreibt: "Der Lindpaintner ist glaub' ich jetzt der
beste Orchesterdirigent in Deutschland, es ist als wenn er mit seinem
Taktstöckchen die ganze Musik spielte", und er lobt weiterhin
das "vortreffliche Orchester, das so vollkommen schön und genau
zusammengeht, wie man es nur erdenken kann."
Auch Berlioz äußert sich bei einem Besuch in Stuttgart während
seiner Deutschlandreise 1843 verblüfft: "Ich hatte allen Grund,
an verschiedenen Stellen der Ouvertüre [Les Francs-Juges] und im
Finale der Sinfonie [Symphonie fantastique] mit einer Menge Fehlern
zu rechnen, konnte jedoch auch nicht einen einzigen feststellen;
alles wurde gleich beim ersten Mal gesehen, gelesen und gemeistert.
Ich war maßlos erstaunt."
In allen zeitgenössischen Urteilen ,
die wir über den Dirigenten Lindpaintner besitzen, steht immer die
Beobachtung obenan, dass nur ein Wille die Musik beseele und dass das
Zusammenwirken der einzelnen Künstler bewundernswert sei. Dabei ist
nicht zu übersehen, dass Lindpaintner als erst 28-jähriger Mann
nach Stuttgart kam und mit seinem Amtsantritt das Aufblühen der Oper
nach einer langen Zeit des Niedergangs einsetzte. Er verdankt dies in
erster Linie der strengen Disziplin, die er bei Orchester und Sängern
einführt; jeder Solist hat seine Rolle zu Hause einzustudieren, ohne
den Korrepetitor zur Verfügung zu haben, wobei drei Seiten der
Partie als tägliches Pensum angenommen werden (gemeint sind
natürlich die Seiten in der ausgeschriebenen Stimme, nicht etwa
Seiten in der Partitur oder im Klavierauszug), und darauf gründet
Lindpaintner seine Berechnung der Tage von der ersten Probe bis zur
ersten Aufführung. Dabei wagt niemand, nicht rechtzeitig fertig zu
sein, da man weiß, wie streng der geachtete, aber auch gefürchtete
Kapellmeister seinen Forderungen nachgeht. Nur so ist es ihm möglich,
das vielseitige und abwechslungsreiche Repertoire, das er sich
vorgenommen hat (mehr als 30 verschiedene Opern pro Spielzeit bei ca.
85 Vorstellungen), auch wirklich aufzuführen.
Aber Lindpaintner sieht sich nicht in
erster Linie als Dirigent und Organisator, als den man ihn nach
vielen Jahren häufig wechselnder Direktionen angeworben hat, sondern
als Komponist, und seine Zeitgenossen sehen das auch so. Der
Stuttgarter Hofkapellmeister wird von maßgeblichen zeitgenössischen
Musikern (Spohr, Schumann) und Theoretikern (Marx) in der Hochzeit
seines Wirkens als Hoffnungsträger unter den deutschen
Opernkomponisten geachtet; Mendelssohn müht sich sogar persönlich
um eine Aufführung seiner Musik in den Gewandhauskonzerten, und in
den populären Gattungen Instrumentalkonzert und Ouvertüre gilt er
unbestritten als Koryphäe.
Sein Verhältnis zu Stuttgart bleibt
über die Dauer seines 38-jährigen Wirkens jedoch stets ambivalent.
Er ist sich bewusst, dass das
lutherisch geprägte und in künstlerischer Sicht provinzielle
Stuttgart einen schlechten Ausgangspunkt für eine
Komponistenkarriere darstellt, vor allem wenn es um die Oper geht.
Seinem Freund Bärmann
in München gesteht er, dass eine erfolgversprechende Karriere als
Opernkomponist eigentlich nur von Berlin, Dresden, München oder Wien
ausgehen könne.
König Wilhelms nüchterne Sinnesart,
seine mäßigen Leidenschaften, seine Abneigung gegen jeglichen Prunk
und seine ganz auf das Pragmatische gerichtete Religiosität, all
diese Eigenschaften wirken wie ein Spiegel der geistigen Atmosphäre,
die das alltägliche Leben in der Residenzstadt prägt. Angesichts
des geradezu sensationellen Erfolges des von Lindpaintner für die
Truppe von Filippo Taglioni geschriebenen Balletts Joko (1826)
schreibt Wilhelm Hauff: "Was wir durch Joko Gelegenheit hatten
zu sehen, war der Furore des hiesigen Publikums. Wir hatten es
nämlich immer so ruhig und gesetzt gesehen, dass wir zweifelten, es
werde jemals durch die Kunst bis zu jener Höhe der Begeisterung
gebracht werden, die man Furore nennt. Bei großen dramatischen oder
musikalischen Werken schien es wenigstens nicht möglich." An
der Tagesordnung war wohl eher eine Reaktion, wie sie Berlioz über
den Besuch einer Vorstellung des Fidelio äußert: "Am Ende
dieser großartigen Fidelio-Vorstellung ließen sich zehn, zwölf
Zuhörer dazu herab, im Hinausgehen ein wenig Beifall zu spenden
[...] und das war alles. Eine solche Gleichgültigkeit empörte
mich."
Lindpaintners Amt in Stuttgart ist gut honoriert und seine Stellung
ist viele Jahre lang dank seiner ausgezeichneten Beziehung zum König
unangefochten, und dies trotz der am Stuttgarter Theater waltenden
Mätressenwirtschaft, die er einen "Rattentanz" nennt und
von der er sich fernhält. Tatsächlich hat Lindpaintner mehrfach die
Gelegenheit, nach Berlin, Dresden, München oder Wien zu wechseln. Er
ist ein umworbener Musikdirektor und unterhält gute Beziehungen zu
den in Frage kommenden Intendanzen. Mehrfach steht ein Wechsel kurz
vor dem vertraglichen Abschluss, aber stets setzt sich sein Hang zur
Bequemlichkeit und Sesshaftigkeit durch. Seine Stuttgarter Stellung
erweist sich als goldener Käfig, dem er nicht entlaufen kann,
letztlich vielleicht auch nicht möchte. Ein mehrteiliger Artikel,
den die AMZ im Jahr 1835 über Lindpaintner veröffentlicht, belegt
seine sentimentale Anhänglichkeit an die Residenzstadt am Neckar,
wobei vor allem die Natur in der Umgebung der Stadt eine große Rolle
spielt.
Trotz der hohen Belastungen durch den
Dienst am Hoftheater arbeitet er mit Feuereifer an seiner
Komponistenkarriere, vor allem auf dem Gebiet der Oper. Mit eiserner
Disziplin, die er nicht nur seinem Ensemble sondern vor allem sich
selbst abverlangt, schafft er sich den Freiraum zum Komponieren, das
er als seine "Leidenschaft" bezeichnete. In seinem
Anstellungsvertrag bedingt er sich aus, "jährlich eine eigene,
große Oper aufführen zu dürfen, um meinen Ruf als Componist auch
im Auslande
geltend zu erhalten".
So kommen bis zum Ende seines Lebens (1856) einundzwanzig Opern
verschiedenster Gattungen zustande, ein ganzes Kompendium der zu
seinen Lebzeiten im Trend liegenden Opernformen, von der Opera seria
(Demophoon 1810, später unter dem Einfluss der Erfolge Rossinis
umgearbeitet in Timantes 1819) über die deutsche romantische Oper
(Sulmona 1823, Der Bergkönig 1825, Der Vampyr 1828), die deutsche
Spieloper (Die Macht des Liedes 1836, Libella 1855), die große
historische Oper (Die Genueserin 1838, Die sizilianische Vesper 1843,
Giulia oder die Korsen 1853) bis zur repräsentativen Festoper zur
Einweihung des umgebauten Hoftheaters (Lichtenstein 1846), die nichts
weniger darstellt als den Versuch, auf der Basis eines Romans von
Wilhelm Hauff eine württembergische Nationaloper zu schaffen.
Die Vielseitigkeit der
Opernproduktionen Lindpaintners ist unter anderem auch Ausdruck für
das Dilemma, in dem die deutschen Komponisten in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts stehen: Welchen Weg zu einem spezifisch
deutschen Opernwerk sollen sie einschlagen? Das Publikum, an dessen
Vorlieben das Repertoire weitestgehend ausgerichtet ist, bevorzugt
hauptsächlich Opern französischen oder italienischen Ursprungs, die
zu Dreivierteln die Spielpläne beherrschen. Auch der Geschmack der
adligen Geldgeber der Theater tendiert in diese Richtung. "Im
Opernrepertoire bevorzugte Wilhelm [I. von Württemberg] die
Italiener, wie Rossini, Bellini, Donizetti und Franzosen, wie Mehul,
Isouard, Auber gegenüber den deutschen Meistern seit Mozart, bis die
späteren Komponisten Meyerbeer'scher Observanz, wozu auch der späte
Lindpaintner zählt, seinem Geschmack wieder mehr entgegenkamen."
Die Kritik und verbreitete theoretische
Schriften verlangen dagegen einen eigenen deutschen Weg, der
letztlich immer wieder in Werke mündet, die die sinnlichen
Bedürfnisse der Zuhörerschaft ignorieren oder die
Aufnahmefähigkeit des Publikums überfordern. Der relative
Misserfolg der Euryanthe von Carl Maria von Weber ist eben nicht nur
auf das mittelmäßige Libretto der Helmine von Chezy zurückzuführen,
auch wenn das zum Schutz des erfolgreichen Autors des Freischütz
immer wieder behauptet wird.
Auch Lindpaintner muss, etwa mit seiner
Sulmona, die Erfahrung machen, dass allzu großer Anspruch einem
Erfolg eher im Wege steht. Er nimmt sich - mit etwas Verspätung -
daher Louis Spohrs Aufruf in der AMZ vom Juli 1823 zu Herzen, in dem
dieser seinen komponierenden Mitstreitern folgendes Rezept für eine
erfolgversprechende deutsche Oper empfiehlt:
1. sich ein Buch zu suchen, das den
großen Haufen anspricht, denn dieser entscheidet, ob die Oper auf
dem Repertoire bleiben soll;
2. durch Einmischung erfundener
Volksmelodien auf die Menge einzuwirken;
3. Orchestereffekte nicht zu scheuen,
denn das Publikum ist schon zu sehr daran gewöhnt;
4. eine größere Einheit des
Kunstwerks anzustreben, durch das Verwandeln der Dialoge in
Rezitative.
Während Spohr dieses Programm seiner
Oper Jessonda zugrunde legt, sich in seiner Kompositionsweise aber
stets aristokratisch vornehm zurückhält, geht Lindpaintner vor
allem in seinen historischen Opern noch einen Schritt weiter und
sucht auch mit seiner Musik "den großen Haufen"
anzusprechen, in einer Weise, wie es Spohr nicht will (aber
vermutlich auch nicht kann). Macht Spohr sich in seiner "Historischen
Symphonie"
über die "allerneueste Epoche" namentlich mit Bezug auf
Aubers La Muette de Portici lustig, greift Lindpaintner gerade dieses
populäre Werk auf, als er nach Vorbildern für seine neue Oper
sucht. Er schreibt: "Ich unternahm es, meine Hand an ein Werk
der größeren Gattung zu legen, und wollte es versuchen, des
deutschen Volkes Herz und Ohr durch populär-fassliche Melodien zu
gewinnen."
Das Werk, über das er hier schreibt, ist seine Große heroische Oper
in 4 Akten Die sizilianische Vesper.
Das Werk
Tatsächlich liegt der Typus der in
Paris zur Blüte gekommenen Großen historischen Oper bei den
führenden deutschen Opernkomponisten am Ausgang der 1830er Jahre
voll im Trend, und auch Lindpaintner ist damit bestens vertraut, da
er alle maßgeblichen Werke dieses Typs schon in Stuttgart auf die
Bühne gebracht hat. Die relativ liberale Theaterzensur des
Verfassungsstaates Württemberg ermöglicht es, die Werke gegenüber
dem Original unverändert auf die Bühne zu bringen.
Adolf Palm schreibt: "Das war eine schöne, künstlerisch
bedeutende Zeit, die dreißiger Jahre! Die Julirevolution hatte die
Geister, welche lange unter dem Drucke einer schmählichen
Rückwärtserei geseufzt, befreit, und aus Frankreich kam ein neuer
belebender Odem in die deutschen Lande. Wie zwei gewaltige
Sturmlieder hatten Aubers Stumme von Portici und Rossinis Tell der
Eröffnung der Revolution vorangeklungen. Der deutsche Liberalismus
trieb jetzt im schwäbischen und badischen Lande seine schönsten
Jugendblüten, man schwärmte für die Pariser Julihelden, man
schwelgte auch in Stuttgart in den Auberschen und Rossinischen
Freiheitsklängen."
Die genannten Werke Aubers und Rossinis hat Lindpaintner alle in
Stuttgart selbst dirigiert, hinzu kamen Opern Donizettis, Bellinis,
Mercadantes, Halevys La Juive und La Reine de Chypre, vor allem aber
des damals alles überstrahlenden Meyerbeer mit Robert le Diable und
Les Huguenots. Gerade die Werke dieses Komponisten, noch dazu eines
Landsmannes, werden in den 1840er Jahren für die führenden
deutschen Opernkomponisten zum Vorbild, von dem man sich Impulse für
die Schaffung einer modernen deutschen Oper erhofft. Der hieraus
resultierende Anspruch bringt die deutschen Komponisten aber in ein
Dilemma, weil der kosmopolitische Ansatz Meyerbeers (Melodik -
italienisch, Rhythmik - französisch, Harmonik - deutsch, so eine
gängige, wenn auch vereinfachende Formel) einer ausgeprägt
nationalen Eigenständigkeit entgegensteht. Die aus diesem Umstand
resultierenden Kompromisse zeigen sich in den wichtigsten
historischen Opern jener Jahre - Franz Lachner Catharina Cornaro
(München 1841), Wagner Rienzi (Dresden 1842), Lindpaintner Die
sizilianische Vesper (Stuttgart 1843), Marschner Kaiser Adolph von
Nassau (Dresden 1845) - in verschiedenen Ausprägungen. Von diesen
dürfte Lindpaintners Oper dem Meyerbeer'schen Modell am
entschiedensten gefolgt sein, was in einer grundlegenden,
stilkritischen Analyse noch zu belegen wäre. Spezifisch deutsche
Elemente sind in diesem Werk in seiner nach dem damaligen Verständnis
avancierten Harmonik, der durch Durchführungselemente stark
angereicherten Orchestersprache und den immer wieder auftauchenden,
volksliednahen Strophenliedern auszumachen, die beim deutschen
Publikum sehr beliebt sind. Trotzdem bleibt der Eindruck einer im
Gesangsmelos eher französisch-italienisch grundierten Oper bestehen.
Neben Meyerbeer muss auch Aubers La Muette de Portici als Vorbild
genannt werden, mit der die Oper die in Italien angesiedelte
Revolutionsthematik gemein hat, was zu ähnlichen musikalischen
Formulierungen führt, ohne jedoch Aubers stilistische Anleihen bei
der Opéra comique zu übernehmen. Lindpaintner achtet genau darauf,
keine bloßen Kopien seiner Vorbilder abzuliefern. Somit gelangt er
trotz einer eklektischen Grundhaltung zu einem durch individuelle
Abänderungen der verwendeten Modelle überzeugenden Ergebnis, bei
dem er die in der jeweiligen dramatischen Situation erforderlichen
modernen Stilmittel seiner Zeit einsetzt.
Schon Spohrs erste Forderung nach einer
die große Menge ansprechenden Textvorlage erweist sich in vielen
Fällen als erstes Hindernis auf dem Weg zu einer erfolgreichen
deutschen Oper, da die zur Verfügung stehenden Librettisten auf
diesem Gebiet sämtlich Amateure sind, die ihr Geld in anderen
Berufen verdienen müssen, da das Schreiben von Opernlibretti in
Deutschland noch weniger einbringt als deren Komposition. Als Folge
ziehen sich die Klagen deutscher Komponisten über ein fehlendes
wirkungsvolles Libretto wie eine Naturkonstante durch die
Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Wagner und Lortzing schreiben
ihre Texte selbst, Lachner besorgt sich vom Chevalier de St. Georges
seinen Text zur Catharina Cornaro, und Lindpaintner bittet seinen
Logenbruder Heribert Rau
um einen geeigneten Text. Rau, von der Ausbildung her Kaufmann, hat
literarische Ambitionen, die später in eine Reihe von biographischen
Romanen und mehreren Gedichtbänden münden, ist aber im Schreiben
von Opernbüchern völlig unerfahren.
Inhalt: Sizilien im Jahr 1283. Nach der
von ihm betriebenen Hinrichtung des letzten Hohenstaufen, Konradin,
und mehreren gewonnenen Schlachten hat Karl von Anjou, der Bruder des
französischen Königs, mit Unterstützung des Papstes Süditalien
von Neapel bis Sizilien usurpiert. Die Willkürherrschaft der
Franzosen bringt Karl in Gegensatz zum sizilianischen Adel und der
einheimischen Bevölkerung. Zur Hofgesellschaft Karls zählen der
sizilianische Conte di Fondi und dessen Rivale, der französische
Marquis de Drouet. Karl ist zornig auf Fondi, da dieser von einer
Brautwerbung für Karl bei der schönen Eleonore ohne dieselbe
zurückgekehrt ist. Karl weiß nicht, dass Fondi selbst für Eleonore
entbrannt ist und diese heimlich geheiratet hat. Nicht wissend, wie
er die Situation handhaben soll, versteckt er Eleonore in seinem
Schloss und gibt deren Zofe Celinde für seine Gattin aus. Das
ungelöste Problem mit seinem Gönner bringt Fondi in die Nähe des
sizilianischen Widerstandes, dessen anfängliche Zweifel an ihm er
durch schwungvolle patriotische Bekenntnisse beseitigen kann.
Vollends, als er den Sizilianern den von Karl verbannten Giovanni da
Procida präsentiert, wird er in die Reihen der Freiheitskämpfer
aufgenommen. Einem Hinweis Drouets folgend erscheint Karl in Fondis
Schloss, um nach Eleonore zu suchen. Da er sie nicht finden kann,
bezichtigt er Drouet der Intrige gegen Fondi und verbannt ihn von
seinem Hof. Der verzweifelte Drouet, der eine Liebschaft zu Aurelie,
einer Zofe im Dienste Fondis, pflegt, verschafft sich über sie unter
falschen Versprechungen Zugang zu den geheimen Gemächern in Fondis
Schloss und kann dem König so Fondi und seine wahre Gattin,
Eleonore, präsentieren. Der erzürnte Karl rehabilitiert Drouet,
nimmt Fondis Schloss in Besitz und wirft diesen in den Kerker.
Eleonore widersteht Karls Annäherungsversuchen und geht auch auf
dessen Angebot, Fondis Leben gegen die Ehe mit ihm zu tauschen, nicht
ein. Sie kennt die Schwachstelle Karls und erinnert ihn an die
Ermordung Konradins, was ihn den Ermordeten in einer Halluzination
aufsteigen sehen lässt und sein Verlangen nach Eleonore gründlich
abkühlt. Er beschließt, aus Palermo abzureisen und Eleonore töten
zu lassen. Drouet soll den Befehl ausführen. Bevor Drouet zur Tat
schreiten kann, muss er sich der Vorwürfe Aurelies erwehren. Als er
mit Eleonore schließlich weggehen will, stellt sich ihm Procida mit
einer Schar Maskierter in den Weg, um Eleonores Flucht zu
ermöglichen. Als Wiedergutmachung für ihren Verrat dringt Aurelie
in den Kerker ein, in dem Fondi gefangen gehalten wird. Ihr gelingt
es, den Kerkermeister betrunken zu machen und letztlich zu
überrumpeln. Zusammen mit ihr gelingt Fondi die Flucht. Inzwischen
hat Procida durch Agitation eine große Anhängerschaft bei der
sizilianischen Bevölkerung gesammelt. Er berichtet von der baldigen
Ankunft der Flotte Pedros von Aragon, der bereit sei, Sizilien als
rechtmäßiges Erbe in Besitz zu nehmen und die Franzosen zu
vertreiben. Beim Läuten der Vesperglocke sollen die Sizilianer den
Aufstand beginnen. Einer feierlichen Osterprozession stellt sich
Drouet mit einer Gruppe Soldaten auf der Suche nach der entlaufenen
Eleonore entgegen. Eine verschleierte Frau in der Prozession hat
seinen Verdacht erregt. Er zieht ihr den Schleier vom Gesicht; es ist
Eleonore. Fondi eilt hinzu und ersticht Drouet. Da ertönt die
Vesperglocke, und der allgemeine Aufstand beginnt. Die Franzosen
werden besiegt und Pedro von Aragon als rechtmäßiger Herrscher
empfangen. Die Sizilianer besingen das Ende der Willkürherrschaft
und ihre neu gewonnene Freiheit.
Trotz der schon in der zeitgenössischen
Kritik bemerkten Parallelen zwischen der Sizilianischen Vesper und
Les Huguenots von Meyerbeer / Scribe liegen zwischen Scribes
raffiniert kalkuliertem Geschichtsdiorama, in das das Grauen der
Bartholomäusnacht erst allmählich, sich dann fortwährend steigernd
eindringt, und der recht einfach gestrickten
Franzosen-gegen-Sizilianer-Geschichte Raus Welten an Theatererfahrung
und Professionalität. Zwar gelingt es Rau, seinem Komponisten einen
reichhaltigen Strauß verschiedenster Szenen zusammenzustellen, der
genügend Anlass zum Komponieren bietet, aber einen zentralen
Kulminationspunkt der Handlung kann er nicht schaffen. Völlig
unterschiedlich ist auch die Sichtweise auf die dargestellten
geschichtlichen Ereignisse. In der Sizilianischen Vesper laufen
private Intrige und geschichtliche Handlung parallel ab, ohne sich
wesentlich zu durchdringen. Die private Intrige der Protagonisten
Karl - Fondi - Drouet - Eleonore wäre auch ohne das Ereignis des
Volksaufstandes der Sizilianer erzählbar, und Karl verlässt sogar -
geschichtlich korrekt - die Bühne, bevor ihn der Aufstand, den er
selbst durch sein despotisches Auftreten schürt, oder eine mögliche
Rache Fondis erreicht. Diese vollzieht Fondi an seinem Konkurrenten
Drouet. Das Ende ist zwar ein Volksaufstand, aber in Gestalt eines
lieto fine. Das Gute hat gesiegt, das Böse muss weichen, Fondi
bekommt seine Eleonore zurück und das Land einen rechtmäßigen
Regenten. Wie anders dagegen der Schluss von Verdis Oper gleichen
Titels,
wo gezeigt wird, dass individuelles Glück nicht möglich ist, wenn
Menschen in das Räderwerk der Geschichte geraten. Am Ende werden
dort alle Hauptpersonen
Opfer des durch die Revolution
bewirkten Massakers. Eine derart geschichtspessimistische Sicht ist
bei deutschen Autoren nicht denkbar, schon gar nicht bei idealistisch
und königstreu gesinnten Mitgliedern der Freimaurerloge "Wilhelm
zur aufgehenden Sonne", der sowohl Lindpaintner als auch sein
Textautor Rau und der Übersetzer der Oper ins Italienische, der
Sänger Wilhelm Häser, angehören.
Trotzdem muss Raus Libretto zur
Sizilianischen Vesper zu den besseren deutschen Operntexten seiner
Zeit gerechnet werden. Mit seiner direkten Sprache, die die lyrische
Blumigkeit vieler deutscher Libretti vermeidet, stellt er sich den
Anforderungen einer bühnenwirksam zu komponierenden Vorlage. Zudem
gelingen Rau in den Auftritten Karls fesselnde Charakterporträts
eines Machtmenschen, der bei Eleonores Heraufbeschwörung des Geistes
des von ihm hingerichteten Konradin von Hohenstaufen sogar
Macbeth-hafte Züge zeigt. In dieser heroischen Konfrontation
zwischen Karl und Eleonore wird zumindest in der privaten Intrige ein
gewisser Höhepunkt erreicht. Lindpaintner schätzt Raus Vorlage hoch
ein, wenn er über seine neueste Oper an den bayerischen König
Ludwig I. schreibt : "... Der Text der Sizilianischen Vesper
durch große Mannigfaltigkeit der verschiedenen Musik, und Gattungen
gewiß vor vielen sich auszeichnend, bietet so viele Momente
drammatischen Aufschwungs ergreifender Volksscenen, gemischt mit
lyrischer Weichheit, und einfacher Gemüthlichkeit dar, daß es wie
mich dünkt nur der Schuld des Componisten wird zugemessen werden
können, diesem umfassenden Poëm nicht Eingang verschafft zu haben.
..."
Hänsler urteilt über das Libretto: "Das Libretto der Vesper
verrät in Anlage und Einzelheiten der Handlung wie auch im
Sprachlichen das Vorbild Scribes, des Textdichters Aubers, Meyerbeers
und Rossinis, dem erfolgreichsten Dreigestirn der französischen
großen Oper. Am nächsten kommt es der Stummen von Portici, mit der
es [...] den Freiheitskampf Siziliens gemeinsam hat. Ist die Dichtung
[...] auch kein selbstständiges Werk, so lässt sie sich doch
Lindpaintners bestem Textbuch, dem Vampyr, an die Seite stellen und
es ist wohl kein Zufall, dass der Komponist zu beiden Opern auch die
beste Musik geschrieben hat".
Die im Libretto zur Sizilianischen
Vesper auffallende Frankreich-Feindlichkeit ist nicht nur durch die
historische Situation begründet, in der die Oper angelegt ist.
Natürlich steht Karl von Anjou als Mörder des letzten Hohenstaufen
beim deutschen Publikum als eher negative Gestalt da. Darüber hinaus
webt Rau aber auch die Ressentiments in seinen Text ein, die im
Gefolge der sog. Rheinkrise am Beginn der 1840er Jahre in der
deutschen Öffentlichkeit entstanden sind.
Dabei leistet er sich sogar Anachronismen, wenn er die französischen
Soldaten im zweiten Akt singen lässt:
Weder Meer, noch Berg, noch Rhein
schließen unser Frankreich ein ...
und spielt im Revolutionschor der
Sizilianer direkt auf das kurz vorher entstandene Deutschlandlied
Hoffmann v. Fallerslebens
an:
Sizilien über Alles!
Lindpaintner erhält Raus Buch Anfang
1842 und beginnt sofort mit Skizzen zur Oper. Die eigentliche
Komposition schreibt er im Juli und August 1842 während der
Theaterferien in Langenargen am Bodensee, wo er regelmäßig seine
Sommerferien verbringt. Daheim in Stuttgart instrumentiert er die
Oper im Winter 1842/43 und schließt die Partitur am 29. Januar 1843
ab. Die Ouvertüre schreibt er erst wenige Wochen vor der Premiere;
sie trägt das Datum vom 24. April 1843. Die Uraufführung findet am
10. Mai 1843 statt. Die Rezension der AMZ von der Premiere belegt
den enthusiastischen Erfolg der Oper:
"Stuttgart, den 10. Mai. Gestern
wurde hier im königl. Hoftheater zum ersten Male Lindpaintners neue
Oper: Die sizilianische Vesper ... gegeben. Wenn nicht zu leugnen
ist, dass Lindpaintner früher stets eine ziemlich mächtige
Opposition fand und dass das Stuttgarter Publikum im Allgemeinen ein
sehr kühles ist, das sich nur selten aus seiner teilnahmslosen Ruhe
heraus begibt, so bringt es dem verdienstvollen Autor doppelt Ehre,
wenn seine neue Oper mit einem Beifall, mit einer Wärme aufgenommen
wurde, die bisher hier unerhört war und sich während der ganzen
Aufführung erhielt und steigerte, so zwar, dass, was hier überhaupt
noch nicht vorgekommen, der Komponist am Schlusse des Werks stürmisch
hervorgerufen ward. Nach dem allgemeinen Urteil ist die Oper reich an
schönen, dramatisch wirkungsvollen Szenen und dabei mit Liedern,
Romanzen und Arien geschmückt, die nirgends ihre Wirkung auf das
große Publikum verfehlen können. So wurde gleich das erste Lied
nach der Introduktion, ein Troubadourlied, stürmisch da capo
verlangt. Es ist aber auch von seltener Frische und Lieblichkeit. Im
Ganzen ist die Oper heroisch gehalten, sehr glänzend und effektvoll
instrumentiert, namentlich in der letzten Szene, wo Posaunen und
Hörner durch eine wirkliche Glocke auf dem Theater verstärkt, den
Klang der Vesperglocke andeuten, während die anderen Instrumente und
der Chor darauf figurieren. Es war dies von einem Effekt, wie er in
keiner neueren Oper vorgekommen. Die Chöre waren meisterhaft
ausgeführt, das Orchester großartig und gegen die Ausführung der
einzelnen Solopartien nichts einzuwenden. Szenerie und Kostüme vom
Oberregisseur Herrn Moritz brillant und geschmackvoll arrangiert. Den
deutschen Bühnen wird so oft, und wohl nicht ganz mit Unrecht, der
Vorwurf gemacht, dass sie die Werke deutscher Komponisten
vernachlässigen, ohne doch vom Auslande Besseres zu gewinnen. Hier
wäre ihnen wieder Gelegenheit geboten, sich dagegen zu wahren und
sicher dürfte es zu gleicher Zeit ehrenvoll und gewinnbringend
sein."
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Allein im Premierenjahr kommt es in Stuttgart zu vier weiteren
Aufführungen, eine für die damalige Spielplangestaltung
vergleichsweise hohe Zahl. Lindpaintner erhält 220 Gulden Honorar,
da, wie die Intendanz bilanziert, "die Sizilianische Vesper
bisher im Verhältnis mehr eingetragen hat als die früheren Opern
des Lindpaintner". Auch in München reüssiert die Oper: "Fast
jede Nummer fand durch Applaus Anerkennung" schreibt der
Rezensent der Zeitschrift "Europa".
Andere Städte folgen: Hamburg, Kassel, Braunschweig, Coburg, Breslau
und Dresden. Das Werk wird der größte Erfolg Lindpaintners nach
seinem Vampyr (1828). Doch nachdem die Oper die ersten Schritte einer
erfolgversprechenden Karriere gemacht hat, wird es aus bisher
unerforschten Gründen still um sie. Möglicherweise haben sich
Lindpaintner und sein Librettist Rau mit ihrer Darstellung einer
veritablen Revolution politisch zu weit vorgewagt. Zwar sind die
Autoren der Oper liberal und königstreu und zeigen in ihrem Werk
eine Revolution, die von einer als illegitim empfundenen,
französischen Herrschaft (Karl von Anjou) zu einer legitimen
Regierungsübernahme durch Pedro von Aragon führt, aber trotzdem
sehen manche die Gefahr, dass sich aus der Oper revolutionäres
Gedankengut herauslösen lässt, wie etwa wenn der Rezensent der
Zeitschrift "Europa" schreibt: "Gibt es denn keine
höhere Aufgabe mehr für die sanfteste aller Künste als
Schwertgerassel, Glockengeheul und Pelotenfeuer das ewige Geschrei
'Tod den Tyrannen!' 'frei sei das Vaterland!' 'auf zur Rache!'
'schlagt sie nieder!' ertönen zu lassen?"
Dies war eindeutig keine Empfehlung für eine Oper in den Zeiten des
Vormärz, noch dazu wenn die revolutionären Gesänge, die schon
gleich am Beginn der Ouvertüre erklingen, sich als sehr eingängig
und somit barrikadentauglich zeigen.
In Stuttgart kommt es zu insgesamt acht
Aufführungen bis zum Jahr 1845, eine gute Zahl für ein neues Werk.
Danach tritt im Theaterbetrieb aufgrund des Neubaus des Hoftheaters
eine Pause ein, und das wiedereröffnete Theater wird 1846 wiederum
mit einer neuen Oper Lindpaintners - Lichtenstein - eingeweiht.
Darüber gerät Die sizilianische Vesper in Vergessenheit. Die Jahre
danach sehen Lindpaintners Karriere mit Beginn der Intendanz von
Ferdinand von Gall
bereits im Abstieg begriffen. Mit der gegen seinen Willen im Jahr
1847 aufgeführten Oper Der Prätendent von Friedrich Wilhelm Kücken
erscheint ein von einflussreichen Kreisen geförderter Konkurrent auf
der Stuttgarter Bühne, der dann 1851 als zweiter Kapellmeister
installiert wird. Diese Entmachtung Lindpaintners erregt in
Deutschland allgemeines Aufsehen, zumal Kücken im Dirigieren
keinerlei Erfahrung hat und Lindpaintner genötigt ist, den
Konkurrenten auch noch auszubilden. Ein Absprung aus Stuttgart
gelingt dem gebrochenen Mann nun nicht mehr; sein
Pensionierungsgesuch wird abgelehnt. Lediglich sein weiter gutes
Verhältnis zum König und seine Autorität als erfahrener
Orchesterleiter bewahren ihn vor einem tieferen Abstieg. Gemildert
werden seine letzten, bitteren Jahre in Stuttgart von der Berufung
zum Leiter der Niederrheinischen Musikfeste 1851 und 1854 in Aachen
sowie einer sehr erfolgreichen Tournee nach London im Jahr 1853.
Lindpaintner stirbt am 21. August 1856 in Nonnenhorn am Bodensee, wo
er auch begraben liegt. In Stuttgart kommt es noch zu einer
Gedenkfeier, bei der sein Vampyr 1856 zum letzten Mal erklingt.
Danach wird hier keine seiner Opern mehr gespielt.
Im Jahr 1855 wird an der Pariser Opéra
Giuseppe Verdis Große Oper in fünf Akten Les Vêpres siciliennes
(Die sizilianische Vesper) uraufgeführt. Der Text dieses Werks hat
mit Lindpaintners Oper lediglich den historischen Hintergrund und die
Gestalt des Revolutionsführers Giovanni da Procida gemein.
Ursprünglich hatte Eugène Scribe das Libretto für Donizetti unter
dem Titel Le Duc d'Albe schon im Jahr 1839 fertiggestellt, so dass er
keinerlei Anleihen an die Oper Lindpaintners machen konnte. Donizetti
hinterlässt seine Oper unvollendet. Ob Verdi Lindpaintners Werk
gekannt hat, ist nicht bekannt. Theoretisch wäre dies möglich
gewesen, aber die gänzlich unterschiedlichen Handlungsstrukturen der
beiden Opern machen ein mögliches Studium Verdis von Lindpaintners
Oper eher unwahrscheinlich. Musikalisch aber sind bei Verdi und bei
Lindpaintner die Anleihen an Auber und Meyerbeer sehr offensichtlich,
wodurch sich genretypische Ähnlichkeiten zwischen beiden Opern
zwangsläufig ergeben.
Wildbad
Lindpaintner gilt als ausgesprochen
diszipliniert und fleißig und erledigt ein außerordentliches
Arbeitspensum, wenn er sich seinen verschiedenen Aufgaben als
Dirigent und Komponist immer mit größtem Enthusiasmus widmet. Dabei
ist sein Rezept einfach: um vier Uhr morgens aufstehen, den ganzen
Tag über wenig essen, bis zum Abend fortarbeiten und sich möglichst
wenig stören lassen, ab sechs dann dirigieren im Theater, gegen elf
ins Bett, fünf Stunden schlafen. Das bleibt nicht ohne Folgen für
seine Gesundheit. Im Oktober 1833 erkrankt er schwer, vermutlich an
einem rheumatischen Fieber im Nackenbereich. Noch Jahre später
leidet er des Öfteren an einem "Rheumatism im Genike, der so
heftig ist, daß er mich manchmal zum Schreyen nötigt."
Wie sein berühmter, italienischer Komponistenkollege im Jahr 1856,
reist Lindpaintner nach Wildbad, wo er sich Heilung und Entspannung
erhofft, so auch kurz nach den aufreibenden Wochen der Vorbereitungen
zur Premiere der Sizilianischen Vesper. Belegt ist dies durch
handschriftliche Eintragungen
Lindpaintners im autographen Klavierauszug, den er im Mai und Juni
1843 in Wildbad fertigstellt und somit der Oper die Gestalt gibt, in
der sie dann in Stuttgart und anderswo aufgeführt wird. So wird das
Werk vor 172 Jahren in Wurfweite der heutigen Trinkhalle schon einmal
auf Lindpaintners Klavier erklungen sein. Aber nicht nur diese
lokalgeschichtliche Kuriosität prädestiniert gerade dieses Werk für
eine Aufführung beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad. Wir
können daran - und sicherlich für viele überraschend - erleben,
wie viel Belcanto in der deutschen Oper der vorwagnerschen Epoche
steckt, die in ihrer Vielfalt im heutigen musikalischen Bewusstsein
völlig unbekannt und durch Fidelio und Der Freischütz absolut nicht
adäquat in den Spielplänen repräsentiert ist. In Adolf Palms
Briefen aus der Geschichte des Stuttgarter Hoftheaters lesen wir: "Es
war ja so recht die Zeit des bel canto. Die Sänger ... hatten es
leichter als heutzutage [1880], weil alle die vielen neuen, zündenden
Opern, welche in rascher Folge erschienen, ziemlich eines
Gesangsstyles waren, mochten sie aus Deutschland, Italien oder
Frankreich kommen." Und so hören wir in Lindpaintners Oper,
dass die Zeit der Rouladen, Fiorituren und gar des canto fiorito in
den 1840er Jahren auch in Deutschland noch nicht vorbei ist, das Erbe
Rossinis noch lebendig ist. Lindpaintner ist ein großer
Rossinikenner und ist entscheidend an der Etablierung der Opern
Rossinis im Repertoire des Stuttgarter Hoftheaters beteiligt. Von
seinem Dienstantritt im April 1819 bis zum Oktober desselben Jahres
studiert er gleich drei Erstaufführungen von Opern Rossinis ein (Il
turco in Italia, L'inganno felice und Elisabetta, regina
d’Inghilterra). Während seiner Amtszeit kommen
neben diesen folgende Opern Rossinis in Stuttgart zur Aufführung:
Armida, Guillaume Tell, La Cenerentola, La donna del lago, La gazza
ladra, Le Siège de Corinthe, L' italiana in Algeri, Mosè in Egitto,
Ricciardo e Zoraide, Tancredi und Zelmira. Auf dem Repertoire
erhalten sich Guillaume Tell, Il barbiere, Otello und Tancredi, die
ersten beiden sogar das ganze 19. Jahrhundert hindurch, und
Lindpaintner dirigiert diese Werke bis zum Schluss seiner Laufbahn
(1856).
Wie ein roter Faden zieht sich durch
Lindpaintners Opern eine Neigung zur Italianità. Über die
Komposition seines Bergkönigs schreibt er, er habe bei der
Niederschrift stets "Zeit, Mode, Deutsch u. Italienisch im Auge
behalten". Das italienische Melos seiner Sizilianischen Vesper
ist also nicht nur als durch den Stoff bedingtes Lokalkolorit zu
verstehen, sondern ist offenbar ein Grundzug seines persönlichen
Stils. Nicht zufällig erscheinen die Klavierauszüge einiger seiner
Opern mit deutschem und italienischem Text. Die Übersetzungen
besorgt Lindpaintners Logenbruder, der Sänger Wilhelm Häser, über
den Palm schreibt: "Mit dem alten Krebs um die Sängerkrone
wetteiferte ... [Wilhelm] Häser, von dessen Koloraturen,
insbesondere seinem vollendeten Triller, noch heute jeder schwärmt,
der ihn einst gehört. Er sang hohen Bass und verband mit prächtiger,
metallreicher, vom tiefen E bis zum G der dritten Oktave reichenden
Stimme ein durch und durch nobles Spiel. Seine Blütezeit
erstreckt[e] sich von 1813 bis Beginn der dreißiger Jahre, wo er
allmählich auf die kleineren Rollen in Oper und Schauspiel, sowie
auf den Konzertgesang sich zurückzog. ... Als Beweis seiner
vielseitigen Bildung gelten auch seine zahlreichen literarischen
Arbeiten. Er hat nicht nur einige Bühnenstücke selbst verfasst,
andere aus dem Italienischen übertragen, sondern er übersetzte eine
Anzahl klassischer Dramen vom Deutschen metrisch ins Italienische:
Schillers Don Carlos, Goethes Iphigenie, ... und viele andere, ja er
schrieb eine tragedia originale in 3 atti: La Grecia Liberata. Auch
zu Operntexten wie Lindpaintners Vampyr, Sizilianische Vesper,
Marschners Templer und Jüdin, besorgte der sprachgewandte Mann die
italienische Übersetzung für den Klavierauszug."
Die Verlage, im Fall der Vesper ist es Schott in Mainz, sind
dankbar, erlauben die italienischen Fassungen doch eine leichtere
Verbreitung der Opern im Ausland.
Auch in der Aufführungsgeschichte der
Sizilianischen Vesper spielt Häser noch eine kuriose Rolle. Auf dem
Theaterzettel der Uraufführung ist er als Darsteller des Pedro von
Aragon verzeichnet. Schon bei der zweiten Aufführung ist diese Rolle
vom Theaterzettel verschwunden, die kurze Szene mit dem Auftritt
Pedros also offenbar gestrichen. Sie ist auch die einzige Szene der
ganzen Oper, für die im autographen Klavierauszug kein italienischer
Text vorhanden ist.
Natürlich muss die rhythmische Struktur einzelner Passagen dem
italienischen Sprachduktus angepasst werden. Diese Aufgabe, das zeigt
der autographe Klavierauszug, wird von Lindpaintner selbst
vorgenommen (möglicherweise geschieht auch dies in Wildbad). Dass
die italienische Fassung der Vesper jemals auf einer Bühne erklungen
ist, darf als unwahrscheinlich gelten. Insbesondere wird die Oper mit
ihrem revolutionären Inhalt mit Sicherheit nicht im restaurativen
Italien jener Jahre gespielt worden sein. Rossini in Wildbad hat sich
dazu entschieden, Lindpaintners Sizilianische Vesper als Il vespro
siciliano in der italienischen Übersetzung Wilhelm Häsers zu
spielen. Hiermit wird nicht nur der spezifischen künstlerischen
Ausrichtung des Festivals Rechnung getragen; das italienische
Sprachmelos unterstreicht auch die ohnehin in der Partitur angelegte
Italianità von Lindpaintners Komposition, die in dieser Form mit
einiger Wahrscheinlichkeit zum ersten Mal gespielt wird.
Mit der Produktion von Lindpaintners
Oper bereichert Rossini in Wildbad seine sehr verdienstvollen
Entdeckungsreisen in das zeitgenössische und stilistische Umfeld
Rossinis um eine lokale Facette, die die Überlappungen
italienischer, französischer und deutscher Musikgeschichte in ein
neues, bislang unbekanntes Licht taucht. Neben den gebotenen lokal-
und musikgeschichtlichen Erkenntnissen ist das Werk aber auch ein
wahrer Leckerbissen für den Opernfreund, der lediglich - wie J.S.
Bach es einmal ausgedrückt hat - zur "Gemüths-Ergötzung"
kommt (und dazu dürfte wohl die schweigende Mehrheit der
Opernbesucher zählen). Es bietet viel Eingängiges, Spannendes,
melodisch Süffiges und in der hier gebotenen Zusammenstellung sogar
Neues. Lindpaintner hält die Sizilianische Vesper für einen
Höhepunkt seines Opernschaffens. Lassen wir uns also mit seiner
Beurteilung des Werkes schließen, mit der er die Oper dem
bayerischen König Ludwig I. empfiehlt: "Mein Bestreben aber,
die Erfahrungen meines Kunstwirkens wie in einem Brennpunkt
zusammenzufassen, war einzig darauf hingezeichnet nach meiner besten
Ueberzeugung dem Vocale wie dem Instrumentale nur das Würdige,
Wirksame, Eigenthümliche zu bieten und das Solide mit dem Modernen
zu verbinden. ..."
Anmerkungen: